Helmut Zeiß: Die demografische Entwicklung wirkt als zusätzlicher Treiber

Interview mit Helmut Zeiß
Helmut Zeiß ist Krankenversicherungsspezialist bei Hoesch & Partner. Mit ihm sprechen wir über Gesundheitswesen, Rekordverlust der GKV´s sowie medizinischen Fortschritt.

Bei den GKV’s wird ein Rekordverlust von annähernd 16 Mrd. Euro anfallen. Fachleute schätzen, dass dieser Wert auf 26 Mrd. Euro steigen wird. Was sind die Gründe?

Helmut Zeiß: Das Gesundheitswesen hat nach wie vor mit steigender Inanspruchnahme von Leistungen zu tun. Preistreiber sind hier nach der Berechnung des Bundesgesundheitsministeriums besonders die Kosten für ambulante Behandlungen und Arzneimittel mit Steigerungsraten (von 2019 nach 2020) von rund 7% bzw. rund 5%.

Natürlich beeinflusst die Pandemie das Geschehen. Die Behandlungskosten von Covid19-Infizierten werden von deren Krankenversicherung getragen und sind besonders für die (intensiv-)stationär Behandelten erheblich. Inwieweit und in welchem Umfang Kosten für „Long-Covid“-Erkrankte in Zukunft entstehen, ist derzeit aber noch gar nicht absehbar.

Der Gesetzgeber versucht letztlich seit Jahren den Gesamtbeitragssatz für alle Sozialversicherungszweige (Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) mit Steuermitteln zu stützen. Ohne die staatlichen Zuschüsse (Gesetzliche Krankenversicherung aktuell ca. 14,5 Mrd. EUR p.a.) wäre das Defizit noch deutlich höher und die staatlich beabsichtigte Grenze von 40 Prozentpunkten für alle Zweige nicht zu halten.

Medizinischer Fortschritt, steigende Lebenserwartung und nicht zuletzt auch dringend notwendige Vergütungsanpassungen bei medizinischem Personal führen unweigerlich zu steigenden Ausgaben. Die demografische Entwicklung (immer weniger Beitragszahler finanzieren ein System mit immer mehr Menschen, die Leistungen begehren) wirkt als zusätzlicher Treiber. Und nicht zuletzt hat die Gesetzgebung der Vergangenheit Kassen mehr belastet, als sie aktuell und weiterhin verkraften können.

Es wird der Ruf laut nach Geldern aus Steuermitteln. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Helmut Zeiß: Der Staat verfolgt die Absicht, durch Zuschüsse die Summe der Beitragssätze in der Sozialversicherung auf 40 Prozentpunkte zu deckeln. Dahinter stehen die Ziele, Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht zu stark durch Lohnnebenkosten zu belasten und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Seit 2010 liegt der Zuschuss aus Steuermitteln bei über 10 Milliarden EUR pro Jahr. Diese Steuermittel bringen übrigens auch die privat Krankenversicherten auf, obwohl sie gar kein Teil des GKV-Systems sind.

Auch wegen der demografischen Entwicklung wird langfristig der Zuschuss weiter steigen müssen, um den Kollaps des Systems zu verhindern. Ohne erhebliche Beitragssatzerhöhungen oder empfindliche Einschnitte in den Leistungskatalog stößt das System schnell an seine Grenzen. Ein Dilemma für den Staat: Stoppt oder begrenzt er die Zuschüsse in das System, provoziert er deutlich steigende Beitragssätze in der GKV. Erhöht er den Zuschuss immer weiter, wird das System nicht mehr in seinem bisherigen Umlageverfahren funktionieren. Denn auch Staatsausgaben sind nicht in unendlichem Umfang möglich. Denkt man langfristig, könnte es sogar zu einem staatlich finanzierten System kommen, welches sich nicht aus der Umlage der Versicherten, also durch überwiegend einkommensgerechte Beitragssätze speist, sondern komplett aus Steuermitteln. Deutliche Steuererhöhungen für Arbeitnehmer wären damit aber unausweichlich. Es stellt sich dann die Frage, wie der aktuelle Beitragsanteil der Arbeitgeber finanziert werden soll. Erfahrungsgemäß funktionieren staatlich finanzierte Systeme nicht besser als das etablierte Deutsche. Durch starke Einschnitte im Leistungskatalog werden anderenorts immer mehr Menschen gezwungen, Leistungen privat zu bezahlen, weil diese von den staatlichen Kassen nicht getragen werden. Eine Zweiklassenmedizin, da Behandlungsformen und -umfänge letztlich vom Budget des erkrankten Menschen abhängen.

Sind auch die PKV-Anbieter betroffen?

Helmut Zeiß: Die Privaten Krankenversicherer sind von den Kosten-Trends gleichermaßen betroffen. Denn die Kosten bewegen sich seit Jahrzehnten nur in eine Richtung: nach oben. Dabei spielt es keine Rolle, wo der Versicherungsschutz zu deren Deckung besteht.

Im Gegensatz zur GKV sorgt die PKV für die Demografische Entwicklung vor. Mit Hilfe von Alterungsrückstellungen trägt das System der Tatsache Rechnung, dass Menschen im höheren Alter durchschnittlich kränker sind. Die Summe der Rückstellungen aller PKV-Versicherer liegt aktuell bei rund 290 Milliarden EUR. Finanzielle Mittel, die zu Gunsten der Versicherten reserviert sind. Denn das System der PKV muss ohne staatliche Unterstützung auskommen. Es finanziert sich allein über die Beiträge seiner Versicherten und über die Kompetenz der Versicherer, Geldanlage für die Verzinsung der Rückstellungen zu betreiben.

In welchen Fällen, würden Sie einem Menschen raten, von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung zu wechseln?

Helmut Zeiß: Vor einem Wechsel in die PKV muss der Versicherte gleich mehrere Hürden nehmen. Zum einen steht die PKV Arbeitnehmern offen, deren Einkommen die sog. Jahresarbeitsentgeltgrenze (auch Versicherungspflichtgrenze) überschreitet (2021: 64.350 EUR Bruttoeinkommen). Selbstständige können auch ohne ein gesetzlich gefordertes Mindesteinkommen in die PKV wechseln. Der prädestinierte Personenkreis für die PKV sind Beihilfeberechtigte wie Beamte oder Richter. Sie erhalten vom Dienstherrn keinen Zuschuss zum Beitrag ihrer Krankenversicherung, sondern eine Beihilfe für ihre Krankheitskosten. Die Höhe der Beihilfe liegt bei mindestens 50%, so dass der Beihilfeberechtigte „nur den Rest“ der Kosten absichern muss. Das System der GKV gibt eine solche Restkostenversicherung nicht her, weshalb diese Gruppe in der PKV deutlich besser aufgehoben ist.

Angemerkt sei, dass auch Studierende sich privat versichern können. Von der eintretenden Versicherungspflicht können Studierende sich nämlich befreien lassen, um sich der PKV anzuschließen.

Es gibt leider nicht DEN pauschalen Rat zu oder gegen einen Wechsel in die PKV. Bei der Beratung müssen etliche Parameter berücksichtigt werden. Neben dem Einkommen (bei Arbeitnehmern), der Familienplanung (jede versicherte Person muss ihren eigenen Beitrag zahlen), der aktuellen und mittelfristigen finanzielle Situation (Immobilienerwerb, Verbindlichkeiten), spielen auch die jeweilige Zukunftsplanung und Altersversorgung gewichtige Rollen. Außerdem setzt der Wechsel in die PKV zuvorderst einen guten Gesundheitszustand voraus. „Bei medizinischer Vorbelastung kann der Versicherer Beitragszuschläge oder Leistungsausschlüsse formulieren oder einen Antrag sogar komplett ablehnen.“

Während Deutschland altert und länger lebt, zahlen immer weniger ArbeitnehmerInnen ein.

Was bedeutet diese Entwicklung für die GKV?

Helmut Zeiß: Immer weniger Beitragszahler und immer mehr Leistungsbezieher bringen das System bereits heute an seine Grenzen. Die steigende Lebenserwartung, durch den medizinischen Fortschritt begünstigt bzw. ermöglicht, führt zu immer längerem Leistungsbezug. In einem Alter, in dem vor Jahrzehnten der durchschnittliche Rentner schon nicht mehr gelebt hat, erfreuen sich Senioren heute bester Gesundheit und sind noch lange aktiv. Das demografisch bedingte Missverhältnis zwischen Beitragszahlenden und Leistungsbeziehern wird sich auch langfristig nicht umkehren. Die zukünftigen Beitragszahler, die das ermöglichen könnten, würden – selbst wenn sie heute geboren würden – erst in rund 20 oder mehr Jahren das System stützen.

Die GKV kann also nur dann überleben, wenn sie weiterhin staatlich gestützt wird, wenn Beitragssätze erheblich erhöht werden oder – und dann geht es an die Qualität der Versorgung – wenn der Gesetzgeber Leistungen aus dem Portfolio der GKV streicht. Das ist für die Versicherten – besonders für die, die krank sind und diese Leistungen brauchen – schmerzhaft. Leistungskürzungen sind PKV-Versicherern im Übrigen nicht erlaubt. Dem privatrechtlichen Versicherungsvertrag liegen nämlich Bedingungen zugrunde, die die Versicherer nicht einseitig zu Ungunsten der Versicherten verschlechtern dürfen.

Herr Zeiß, vielen Dank für das Gespräch!

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