Wir leben in der ersten über-überkommunizierten Gesellschaft, in der es aus Kundensicht von allem und jedem viel zu viel gibt. Genau in diesem mentalen Chaos werden starke Marken immer wichtiger. Gleichzeitig wird es aber immer schwieriger, starke Marken zu bauen. In diesem Beitrag zeigt Markenexperte Michael Brandtner, warum dabei Einfachheit im Sinne einer klaren Fokussierung Komplexität schlägt und was Markenverantwortliche von Antoine de Saint-Exupéry im Speziellen lernen sollten.
Bereits Ende der 1960er Jahre warnten Al Ries und Jack Trout vor der überkommunizierten Gesellschaft. 1980 schrieben sie dann in ihrem Klassiker „Positioning“ folgende Zeilen: „Heute reagieren Märkte nicht mehr auf Strategien, die in der Vergangenheit funktioniert haben. Es gibt einfach zu viele Produkte, zu viele Unternehmen und zu viel Marketinglärm.“
Nur das Aufwärmtraining
Nur was Al und Jack damals als überkommunizierte Gesellschaft sahen, war maximal das Aufwärmtraining für heute. Heute – vor allem auch durch die noch relativ junge Internetwelt – leben wir wirklich in einer über-über-kommunizierten Gesellschaft. Das wird noch verstärkt, weil sich das Internet dreifach von allen bisherigen Massenmedien wie etwa Fernsehen, Radio oder auch Zeitschriften und Zeitungen unterscheidet.
(1) Es ist das perfekte Online-Suchmedium mit einem fast ewigen Gedächtnis.
(2) Es ist das erste wirklich interaktive Massenmedium.
(3) Es ist die Basis für unzählige neue Geschäftsmodelle, Technologien und Marken.
So gesehen haben wir heute aus Kunden- und vor allem Wahrnehmungssicht viel zu viele Produkte und Dienstleistungen, viel zu viele Marken, viel zu viele Unternehmen und viel zu viel analogen und digitalen Marketinglärm. All das führt dazu, dass die Marke auf der einen Seite als mentale Denkabkürzung und als zentraler Wertschöpfungsfaktor immer wichtiger wird, während es gleichzeitig aber immer schwieriger wird, in diesem Umfeld eine starke Marke zu bauen und erfolgreich in die Zukunft zu führen.
Von Antoine de Saint-Exupéry lernen
Aber nicht nur für die Kunden wird die Welt so immer komplexer, auch für die Entscheider nimmt die Komplexität zu. So waren die Anforderungen an die Marken selbst noch nie so groß und vielfältig wie jetzt. So muss Marke heute Haltung zeigen, Marke muss einen Purpose haben, Marke braucht ein „Why“, Marke muss Verantwortung übernehmen, Marke muss sich in der Gesellschaft engagieren, Marke muss für die Demokratie eintreten und Marke muss natürlich damit auch gesellschaftlich relevant sein.
All dies führt dazu, dass auch die Markenmodelle immer komplexer und komplizierter werden. Verstärkt wird das Ganze noch einmal dadurch, dass in einem Meeting oder bei einer Präsentation eine umfassende Markenidentität oder ein umfassendes oder gar überfülltes Markensteuerrad spontan bei den Entscheidern einen sehr viel genialeren und durchdachteren Eindruck hinterlässt als eine Markenidentität oder ein Markenstatement, das wirklich auf das Wesentliche reduziert ist.
Genau deshalb sollten sich gerade jetzt viele Markenverantwortlich folgende Aussage von Antoine de Saint-Exupéry ins Gedächtnis rufen: „Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.“ Seien wir uns ehrlich. Es ist extrem einfach, dass man heute in ein Markenstatement, in eine Markenidentität oder in ein Markensteuerrad einen oder auch mehrere Begriffe hinzufügt. Was aber extrem schwierig, aber dafür umso lohnender ist, ist es, eine Marke auf das Wesentliche zu reduzieren oder zu fokussieren.
Einfache Denkabkürzungen gesucht
Denn je komplexer unsere Welt wird, desto mehr ist unser Gehirn auf Einfachheit angewiesen. Nehmen wir dazu einmal die Welt der großen und kleinen Entscheidungen in unserem Leben. Anzug oder doch Business Casual? Kaffee oder Tee? Wein oder Bier? Streaming oder doch klassisches Fernsehen? Vegetarisch oder vegan? Schwimmbad oder Fitnessstudio? Urlaub am Meer oder doch in den Alpen? Laut Studien treffen wir so bis zu 20.000 meist kleine Entscheidungen am Tag.
Das heißt aber auch: Unser Gehirn wäre total überfordert, wenn es bei all diesen 20.000 Entscheidungen wirklich nachdenken müsste. Alleine der wöchentliche Einkauf im Supermarkt oder beim Diskonter würde so nicht nur enorm viel Zeit kosten, sondern auch uns oder besser unser Gehirn massiv überfordern. So hat unser Gehirn in der Evolution schnell gelernt, auf Denkabkürzungen, also auf bewährte Entscheidungsmuster zu setzen. So gesehen ist auch Marke, wenn diese mit einer Kaufentscheidung eng verbunden ist, letztendlich nichts anderes als eine Denkabkürzung.
Von Siegermarken lernen
Sie denken an Cola. Sie denken an Coca-Cola. Sie denken an einen Hamburger. Sie denken an McDonald’s. Sie denken an einen Energydrink. Sie denken an Red Bull. Sie denken an Videostreaming. Sie denken an Netflix. Sie denken an Musikstreaming. Sie denken an Spotify. Sie denken an KI. Wahrscheinlich fällt Ihnen dazu spontan ChatGPT ein. Und Brille ist natürlich in diesem Kontext ganz klar Fielmann. Das heißt: Im Idealfall lässt sich dabei die Essenz der Marke auf ein zentrales Schlagwort reduzieren oder besser fokussieren.
Marke ….. Fokus
BMW ….. Fahrfreude
Audi ….. Technik
Volvo ….. Sicherheit
Tesla ….. Elektro
Google ….. Suche
YouTube ….. Video
TikTok ….. Kurzvideo
Netflix ….. Videostreaming
Spotify ….. Musikstreaming
Milka ….. Zart
Nivea ….. Pflege
Knoppers ….. Frühstückchen
Würth ….. Schrauben
Rational ….. Kombidämpfer
Zoom ….. Videokonferenz
Deepl ….. Übersetzung
Interessant dabei ist vor allem aus psychologischer Sicht der sogenannte Halo- oder Heiligenschein-Effekt. Wenn eine Marke in einem Bereich sehr gut eingeschätzt wird, wird diese generell sehr gut eingeschätzt. Wenn eine Marke aber versucht, in vielen Bereichen sehr gut eingeschätzt zu werden, wird diese meist nur durchschnittlich eingeschätzt.
Universelles Prinzip
Aber nicht nur Marken werden so in unserem Gehirn abgespeichert. Genauso merken wir uns etwa auch Personen. Nehmen Sie die Welt der Künstler. Sie denken an Pop-Art. Sie denken an Andy Warhol. Sie denken an Streetart. Sie denken an Banksy. Elvis Presley wiederum hat sich im Laufe der Zeit die Position oder den Titel „King of Rock’n’Roll“ verdient.
Michael Jackson war der „King of Pop“, Madonna ist die „Queen of Pop“ und Kylie Minogue wurde speziell von den europäischen Medien mit dem Titel oder der Position „Princess of Pop“ geadelt. Aretha Franklin gilt als „Queen of Soul“, Sam Cooke als „King of Soul“ und James Brown wird sogar immer wieder als „Godfather of Soul“ bezeichnet.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Mariah Carey die Bezeichnung oder den Titel „Queen of Christmas“ rechtlich in den USA schützen lassen wollte. Nur dies traf auf heftigen Widerstand von Darlene Love und Elizabeth Chan, die ebenfalls bereits so von den amerikanischen Medien tituliert wurden. Interessant ist hier, dass viele Künstler, Künstlerinnen und vor allem auch deren Management klar die Macht dieser Art der Positionierung verstehen, während gleichzeitig viele „Markenexperten“ genau diese Art der Positionierung immer noch als „zu wenig kreativ“ gering schätzen.
Das unsichtbare Wort des Marktführers
Spannend zudem ist, dass das Wort des Marktführers für viele „unsichtbar“ ist und deshalb auch gerne selbst in Markendiskussionen übersehen wird. Der Grund: Der Marktführer besitzt in der Regel nicht irgendeine ausgewählte Eigenschaft, nicht irgendein ausgewähltes Attribut oder nicht irgendeinen ausgewählten Nutzen, sondern den Markt, also die Kategorie in Summe.
Das gilt vor allem für die große Welt des Internets. Natürlich mag eine Suchmaschine, egal ob diese Google oder Bing heißt, verschiedene Eigenschaften und Nutzen haben. Der wahre Unterschied zwischen Google und Bing ist, dass Google in unserer Wahrnehmung und in unserem Gedächtnis für Suchmaschine in Summe steht. Bing ist damit automatisch dazu „verdammt“, nur als weitere Suchmaschinen-Marke wahrgenommen zu werden. So scheiterte auch Cuil kläglich, als man sich „selbstbewusst“ als die beste Suchmaschine der Welt anpries. (In der Wahrnehmung war man – wenn überhaupt – nur eine weitere Suchmaschine, die behauptete besser zu sein.)
Im Idealfall sollten Sie daher immer versuchen, eine Kategorie als Marktführer, Original oder auch als führender Spezialist in der Wahrnehmung oder im Gedächtnis Ihrer Kunden und potenziellen Kunden zu besitzen. Die Positionierung über Attribute, Eigenschaft oder Nutzen wird im Wettbewerb von heute immer schwieriger.
So funktioniert etwa ein Attribut wie „zart“ für Milka oder „pflegend“ für Nivea nur deswegen so gut, weil beide Marken gleichzeitig auch als starke Marktführer wahrgenommen werden. Für einen Herausforderer wären diese beiden Attribute wahrscheinlich jeweils viel zu schwach, um sich damit dauerhaft klar und positiv zu differenzieren und zu positionieren.
Konkret versus abstrakt
Wichtig dabei ist auch immer, dass in der Wahrnehmung der Kunden das konkrete Wort in der Regel das abstrakte schlägt. Nehmen Sie BMW! BMW wurde groß, indem man sich erfolgreich mit der Idee oder besser dem Wort „Fahrfreude“ gegen „Fahrkomfort“ und damit gegen Mercedes-Benz positionierte. Eine weniger gute Idee war es, als man 2009 von Fahrfreude auf Freude wechselte.
Fahrfreude ist im mentalen Autokontext für viele eine wirklich konkrete und vor allem relevante Eigenschaft. Der Grund: Viele Menschen fahren einfach gerne Auto. Freude dagegen ist in diesem Kontext viel zu unspezifisch, um eine Automarke wirklich zu positionieren. So freuen sich die einen, weil das eigene Auto Fahrfreude verkauft, die anderen, weil es so praktisch und geräumig ist, wieder andere, weil so robust und sicher ist. Heißt: Freude ist generell sicher ein schönes Attribut, aber für die Positionierung einer Automarke viel zu vage und breit. So macht es auch absolut Sinn, dass BMW im aktuellen „The Soul of BMW“-Spot wieder auf 100 Prozent Fahrfreude setzt.
Original statt Leidenschaft
Dies sollte man aktuell vielleicht auch bei Radeberger bedenken. 2024 überarbeitete die Radeberger Exportbierbrauerei ihre Kernmarke Radeberger Pilsener komplett, vom Logo über das Packaging bis hin zum Werbeauftritt und Slogan. Dieser lautet nun „Auf die Leidenschaft“. Nur wird dieser Slogan Radeberger wirklich differenzieren und ist dieses Wort konkret genug, um wirklich die Position von Radeberger Pilsener in der Wahrnehmung der Kunden zu verbessern? Das ist die eine Frage, die man sich stellen kann.
Aber es gibt noch eine ganz andere? Würde es nicht einen effektiveren Ansatz geben und was unterscheidet Radeberger wirklich von allen anderen deutschen Biermarken? Antwort: Radeberger war die erste deutsche Brauerei, die nach Pilsener Art braute. Genau hier könnte – psychologisch gesehen – eine sehr viel stärkere Idee „schlummern“. Dazu müsste man zwei Punkte in der Werbung beachten:
(1) Man müsste zuerst einmal aufzeigen, dass der Biermarkt für die Kunden unüberschaubar ist.
(2) Man müsste dann Radeberger aus dieser Masse heben.
Dazu könnte man in einem Werbespot aufzeigen, dass es in Deutschland über 1.500 Brauereien gibt, um dann ein für alle Mal klarzustellen, dass es nur eine Original-Pilsbier-Brauerei in Deutschland gibt. (Nur wahrscheinlich ist dieser Ansatz dem Marketing und der Werbeagentur viel zu wenig kreativ.)
Immer mit dem mentalen Kontext starten
Wenn Sie diese Zeilen angeregt haben, über Ihre Marke und dieses eine Wort nachzudenken, sollten Sie niemals mit der eigenen Marke starten. Vielmehr sollten Sie mit dem mentalen Kontext aus Kundensicht beginnen, in dem sich Ihre Marke bewegt.
So scheitern letztendlich viele Marken daran, weil man gerne so wäre wie der Marktführer. Keine gute Idee. Vielmehr sollte man zuerst einmal verstehen, welche Ideen und Worte bereits von anderen Marken im eigenen Umfeld besetzt sind, um dann darauf aufbauend das eigene Zauberwort für die eigene Marke zu finden. So einfach in der Theorie. Oft so schwer in der Praxis.
Markenstratege Michael Brandtner ist Österreichs führender Markenpositionierungsexperte und Associate of Ries Global. Im Herbst 2024 erschien sein neues Buch „SIEGERMARKEN“ erscheinen. Sein Blog: www.brandtneronbranding.com