Dr. Annette Lingenauber ist Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in der Praxis Försterweg in Hamburg. Im Interview sprechen wir mit ihr über negative Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder sowie die psychischen Belastungen.

Es wird derzeit immer von den negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder oder auch Jugendliche gesprochen. Welche psychologischen Auswirkungen stellen Sie vermehrt fest?
Dr. Annette Lingenauber: Wir sehen gehäuft Kinder mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Verhaltensauffälligkeiten, die wir, wenn die organische Abklärung unauffällig ist, doch mit den Belastungen durch die Corona-Pandemie in Einklang bringen.
Warum haben beispielsweise die Einschränkungen der Pandemie, von der alle betroffen sind, eine andere Wirkung auf Kinder als auf Erwachsene?
Dr. Annette Lingenauber: Ganz so sicher bin ich mir gar nicht, dass die Erwachsenen so viel seltener Auswirkungen zeigen. Auch im Kindesalter zeigen sich nicht für alle Kinder die gleichen, negativen Folgen des Lockdowns. Unterschiede sind bedingt durch die für Erwachsene häufiger erhaltene Tagesstruktur (so hat z.B. die gesamte Ärzteschaft und das Praxispersonal eher mehr als weniger Arbeit), Erwachsene können Alternativen suchen – in den Impfzentren arbeiten viele Menschen aus der Kunst- und Kulturszene, die sonst keine Einkünfte hätten. Auch sind Erwachsene nicht in gleichem Maße in ihren Bildungschancen eingeschränkt, wie es für alle Schulkinder und Studenten gilt. Erwachsene sind geübter kontaktlose Kommunikation einzusetzen, während für Kinder das gemeinsame Treffen und Spielen essentiell ist.
Wenn man von psychischen Belastungen bei Kindern in dieser Zeit spricht, was bedeutet das im Einzelnen und wie kann man diese Belastungen messen?
Dr. Annette Lingenauber: Die Belastungen ergeben sich aus dem unregelmäßigen, oft nur online oder durch Lernblätter möglichen Schulunterricht, der fehlende Kontakt zu Freunden und für viele das Leben auf engem Raum, in dem z.T. Eltern auch noch im Home-Office arbeiten. Messen kann man diese Belastungen nicht im Einzelfall, man kann aber in Statistiken sehen, dass ca. 1/3 aller Kinder psychische Veränderungen wie Rückzugstendenzen, vermehrte Aggressivität und andere Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Dies gilt aber nicht für alle Kinder, es gibt auch Kinder, die diese Belastungen erstaunlich gut verkraften. Oft findet sich ein Zusammenhang mit der Lebenssituation der Familie und der Kindergesundheit.
Haben die Auswirkungen von Corona etwas mit dem sozialen Umfeld oder dem Bildungsniveau von Kindern und Jugendlichen zu tun?
Dr. Annette Lingenauber: Diesen Punkt kann man nur unterstreichen. Ein geringeres Bildungsniveau und schwieriges soziales Umfeld gehen meist einher mit engen Wohnverhältnissen, fehlenden Gärten und Außenspielflächen, geringeren Fähigkeiten der Eltern, ihre Kinder im Lernen zu unterstützen und die Freizeit aktiv zu gestalten.
Was empfehlen Sie besorgten Eltern, um präventiv gegen Spätfolgen vorzugehen oder um in der jetzigen Situation Hilfestellung zu leisten?
Dr. Annette Lingenauber: Wichtig ist eine klare Tagesstruktur, eine altersgemäße – möglichst geringe – Mediennutzung und tägliche Bewegung im Freien. Wir empfehlen auch Kontakt zu den Lehrern zu halten – wo steht mein Kind? Wie können wir unterstützen?
Die Corona-Krise bringt viele Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, im Zusammenleben. An wen kann man sich wenden, wenn die Probleme zu Hause zu groß werden?
Dr. Annette Lingenauber: In diesem Fall werden wir Kinder- und Jugendärzte als erste Ansprechpartner kontaktiert, wir beraten, empfehlen auch Vorstellungen bei Kinderpsychologen oder Kinder- und Jugendpsychiatern. Hilfreich ist auch der Kontakt zu Erziehern und Lehrern, wir haben die Erfahrung gemacht, dass dann oft eine Betreuung im Rahmen der Notbetreuung möglich ist und dieser wieder etwas „normalere“ Alltag manche Ängste oder Verhaltensauffälligkeiten schon positiv beeinflusste.
Halten Sie Schutzimpfungen gegen Corona bei Kindern im Grundschulalter für notwendig, obwohl Kinder eigentlich, wie es heißt, über genügend Abwehrkräfte gegen Viren verfügen?
Dr. Annette Lingenauber: Coronaimpfungen sollten allen Kindern angeboten werden, wenn der Impfstoff zugelassen ist und die ständige Impfkommission (STIKO) eine Impfempfehlung ausspricht, denn auch sie haben ein Recht auf maximalen Schutz ihrer Gesundheit. Kinder haben nicht per se „genügend Abwehrkräfte“ gegen Viren. Sie setzen sich mit vielen Viren auseinander und entwickeln dann eine gezielte Abwehr. Auch wenn eine Covid19 Erkrankung im Kindesalter meist milde verläuft, gibt es doch genügend Beschreibungen von komplizierten Verläufen, die stationäre Behandlungen erforderlich machen und zu long-covid Verläufen im Kindesalter fehlen noch wirklich belastbare Zahlen, daher sprechen wir uns für eine Impfung aus. Auch bedeutet eine Impfung nicht nur den Schutz des Individuums sondern auch die Verbesserung der Herdenimmunität und damit eine Bekämpfung der Pandemie.