Henrike Ortwein: Unterforderung, Langeweile und Desinteresse sind prägenden Elemente

Interview mit Henrike Ortwein
Henrike Ortwein ist Traumatherapeutin, Stress- und Burnoutberaterin in ihrer Praxis in Hamburg. Mit ihr sprechen wir über Boreout, Gegenstück zum Burnout sowie mögliche Symptome.

Mit Sicherheit hat jeder schon mal etwas von dem Begriff „Burnout“ gehört. Doch mit dem gegenteiligen Begriff „Boreout“ verhält es sich etwas anders. Was ist ein Boreout überhaupt?

Henrike Ortwein: Burnout, ausgebrannt sein, ist heutzutage allgegenwärtig. Der sogenannte Boreout (englisch boredom, Langeweile) wird als Gegenstück zum Burnout gesehen. Unterforderung, Langeweile und Desinteresse sind die prägenden Elemente. Verwaltungsbedienstete und ArbeitnehmerInnen in der Dienstleistungsbranche sind im Gegensatz zu Selbstständigen häufig von Boreout betroffen. Bewältigungsstrategien, auch als Copingstrategien bezeichnet, können bei Unterforderung von Arbeitnehmern zu einer Handlungsstrategie führen, die eine Negativspirale provoziert. Eine Verkettung von Verhaltensweisen kann Exithemmungen (keine Änderung/kein Austritt), innere Kündigung, Tabuisierung und Kommunikationsprobleme aufzeigen. Gefühle von Ohnmacht und Gedanken, wie „das Leben zieht an mir vorbei“, rufen erneut lähmend wirkenden Stress und Erschöpfung hervor. Zentrale Ursache ist eine mangelnde Person-Job-Übereinstimmung, wobei eine qualitative Unterforderung feststellbar ist. Mit fortschreitendem Lebensalter wird uns bewusst, dass unsere Möglichkeiten, die Zeit sinnerfüllt zu nutzen, weniger werden. Die in den Arbeitgeber investierte Zeit scheint für Betroffene sinnlos und vergeudet. Die Sinnfrage ist entscheidend.

Ein Boreout ist im Gegensatz zum Burnout schwieriger zu identifizieren. Welche Symptome können bei Betroffenen auftreten?

Henrike Ortwein: Eine Zuordnung zum jeweiligen Krankheitsstörungsbild kann schwierig sein, da die Symptome des Boreout-Syndroms denen des Burnout-Syndroms sehr ähneln. Fühlen Sie sich niedergeschlagen, verspüren Sie Schwindel oder depressive Stimmung, Kopf-und Rückenschmerzen sowie Antriebs-und Schlaflosigkeit? Infektionsanfälligkeit, Magenbeschwerden oder z.B. auch ein Tinnitus können Symptome für eine persistierende Unterforderung sein. Zu wenig und falsche Aufgaben am Arbeitsplatz sowie starre Arbeitsplatzkonstrukte können Indikatoren für Unterstress sein. Paradoxerweise wird oft die mangelnde Arbeitsauslastung aus Angst vor weiterer nicht erfüllender Arbeit und einem möglichen Arbeitsplatzverlust nicht thematisiert, was zusätzliche Belastung und Stress implizieren. Ein fehlendes Gebrauchtsein und sich unnötig fühlen, wird (mir) oft von Betroffenen beschrieben. Gefühle von Leere, dumm und sinnlos zu sein, können überwiegen.

Betroffene unterschätzen oftmals den Boreout und denken es sei eine harmlose Variante des Burnouts oder einfach nur Langeweile am Arbeitsplatz. Ist ein Boreout wirklich weniger beunruhigend als ein Burnout?

Henrike Ortwein: Aufgrund der Ähnlichkeit der Symptome zwischen Burnout und Boreout ist eine Diagnose schwierig. Oft überdecken Betroffene die ursprünglichen Symptome und erst im Laufe der Therapie oder Beratung wird ein Boreout diagnostiziert. Das Betroffene ein Boreout unterschätzen, hängt mit unserer gesellschaftlichen Betrachtungsweise zusammen. Es ist etablierter an einer sozial angesehenen Störung, wie einem Burnout zu leiden. Jemand, der Langeweile und keine Aufgaben thematisiert, wird anders bewertet und kategorisiert bzw. charakterisiert als eine Person, die vor Arbeitserschöpfung ausgebrannt ist. Wenn es Ihnen längere Zeit nicht gut geht und Sie merken, dass Sie sich unter den gegebenen Umständen verändern, lade ich Sie ein, sich Jemanden anzuvertrauen und den Mut aufzubringen, für sich einzustehen.

Immer wieder wird berichtet, dass positiver Stress ein Ausweg vom Boreout sein soll. Das hört sich erstmal etwas seltsam an. Was genau kann man unter positiven Stress verstehen und wie könnte dieser den Betroffenen helfen?

Henrike Ortwein: Stress ist ein Begriff, den jeder beinahe täglich benutzt und der eher negativ besetzt ist. Stress, lateinisch districtia = Enge, ist an die körperlichen Symptome in Notsituationen angelehnt. Also ein äußerer Reiz, der zu einer innerpsychischen Verarbeitung und äußeren Verformung führt. Individuelle Stressverarbeitung und Stressreaktion auf einen Stressstimuli, sind holistisch zu betrachten. Stress ist nicht per se schlecht. Die Stressreaktion kann als Anpassungsreaktion auf Belastungen und als gesunde Reaktion des Körpers verstanden werden. Ziel ist, den Organismus an die Anforderungen der stressauslösenden Situation anzupassen und sich dadurch physiologisch und psychologisch weiterzuentwickeln.

Positiver, auch Eu-Stress genannt, wird vom negativen Dis-Stress, unterschieden. Eine Bewertung von Stresssoren, wie z.B. Lärm, Kälte, Hitze, Ängste, Über- und Unterforderung, Verlust eines Lieblingsmenschen, erfolgt individuell sehr verschieden. Individuelle Ressourcen und Fähigkeiten bestimmen die Reaktion auf eine Belastung, Beanspruchung oder auch Unterforderung. Positive Stimuli haben Einfluss auf unsere körperliche und psychische Aktivierung und unser Verhalten. Das kann unsere Gesundheit fördern, unser Wohlbefinden beeinflussen und unsere Leistungsfähigkeit steigern – schlussendlich unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstwirksamkeit steigern. Fragen Sie sich – „Wie wirkt sich Stress auf mich aus?“ „Wie habe ich mich in der Stresssituation gefühlt?, Wie habe ich körperlich reagiert?, Wie habe ich mich verhalten?, Was habe ich gedacht?“. Sorgen Sie gut für sich und füllen Sie sich mit Positivem. Das kann eine kleine Übung, wie Jemanden seine Dankbarkeit auszusprechen oder eine neue Art der Herausforderung, z.B. beim sportlichen Wettbewerb, sein. Positiv-stimulierende Wirkung einer Stressreaktion kann einen leistungsfördernden Effekt, eine Fokussierung und eine Konzentrationssteigerung zur Folge haben. Sie sind Experte für sich, keiner kennt sie so gut wie Sie sich selbst – es gibt drei Möglichkeiten: Verlassen Sie die Situation, verändern Sie sie oder akzeptieren Sie sie ganz.

Für Betroffene von Boreout scheint der Berufswechsel der einzige Ausweg. Was können Betroffene, Ihrer Meinung nach noch gegen einen Boreout tun?

Henrike Ortwein: Wenn Betroffene die Unterforderung nicht länger ertragen und etwas dagegen unternehmen wollen, ist die Frage nach dem „Wofür“? sinnvoll und zielführend. „Wofür“ impliziert den Gedanken, „wo komme ich her?“ und „wo will ich hin?“, ergo, was soll in Zukunft anders werden. Die Frage nach dem „Warum“ ist oft Schuld beladenen und negativ konnotiert. Hilfreich kann folgende Betrachtung sein: Analysieren Sie die Ursachen – Scheuen Sie sich nicht, um Unterstützung zu bitten und gemeinsam mit professioneller Beratung „das Licht anzumachen“, um auslösende Faktoren zu erkennen und zu verstehen. Sorgen Sie für Ausgleich und füllen Sie Ihre Schale mit positiven Dingen, die Ihr Herz erfüllen. Versuchen Sie mit Abstand und Perspektivenwechsel Ihre Sichtweise und Haltung zu verändern, um wieder mehr Leichtigkeit zu erfahren. Reden hilft – Führen Sie Gespräche mit ihrem Arbeitgeber, suchen Sie nach offenen Gesprächspartnern oder professionellen BeraterInnen. Ich lade Sie ein, sich selbst neu kennen zu lernen und sich in punkto Ihres bisherigen Lebensweges zu fragen, „was darf noch kommen?“. Musik, Kunst, moderate sportliche Betätigung und Atemtherapeutische Methoden können Sie stärken, stabilisieren und auf Ihren Herzensweg führen. Ein Berufs- oder Arbeitsplatz-Wechsel, scheint zunächst eine verlockende Lösung zu sein. Falls Sie das Gefühl von Unterforderung schon länger kennen, wäre eine individuelle Betrachtung Ihrer Situation und Person zielführender und perspektivisch effizienter, um die Auslöser zu ergründen. Ihre Bedürfnisse zu erkennen, zu achten und auszuleben, um wieder glücklicher, zufriedener und ein Mehr an Lebensqualität zu erfahren, wünsche ich Ihnen von Herzen.

Frau Ortwein, vielen Dank für das Gespräch!

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