Nathalie Scheerer-Gulde: Eine Ausbildung ist nicht das Ende der Karriereleiter, sondern die erste Sprosse

Interview mit Nathalie Scheerer-Gulde
Nathalie Scheerer-Gulde ist Dipl.-Betriebswirtin und Geschäftsführerin schneider-personalberatung-gmbh in Stuttgart. Im Interview sprechen wir mit ihr über Fachkräftemangel, Auswirkungen der Corona-Pandemie sowie sinkende Nachfrage.

Der Fachkräftemangel in Ausbildungsberufen ist geraumer Zeit ein großes Thema. Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie auf die ohnehin schon wackelige Ausbildungsbranche?

Nathalie Scheerer-Gulde: Aufgrund der Pandemie konnten keine Jobmessen stattfinden und keine Praktika angeboten werden bzw. es war nur eingeschränkt möglich. Für die Unternehmen war/ist es daher schwierig, sich am Markt zu präsentieren und an potentielle Bewerber zu kommen. Auch die Kooperationen mit Schulen fielen durch das Homeschooling aus. Sicherlich gab es Versuche, Veranstaltungen online abzuhalten, aber gerade für jüngere Schüler ist der persönliche Kontakt aus meiner Erfahrung einfach wichtig.

Welche Gründe sehen Sie in der sinkenden Nachfrage? Handelt es sich einzig um Verunsicherung seitens der potentiellen Bewerberinnen und Bewerber?

Nathalie Scheerer-Gulde: Die Pandemie bewirkte bei manchen Schulabgängern, ein Jahr zu „pausieren“ und sich erst später für einen Ausbildungsplatz zu bewerben. Ein weiterer Grund, den wir immer wieder feststellen, ist, dass sich viele über ihre beruflichen Ziele im Unklaren sind und an einem Studium festhalten, obwohl eine praktische Ausbildung für sie geeigneter wäre.

Vielfach kritisiert wird die mangelnde Attraktivität der Ausbildungsberufe aufgrund der geringen Entlohnung und den familienunfreundlichen Arbeitsbedingungen, als Beispiel in der Pflege. Nun kommt zudem die Verunsicherung durch die Corona-Pandemie hinzu. Welche Möglichkeiten haben Unternehmen noch, um die nächste Generation für sich zu gewinnen?

Nathalie Scheerer-Gulde: Die auszubildenden Unternehmen müssen sich früh am Markt präsentieren (Schulkooperationen, Praktika und Ferienjobs anbieten, auf Jobmessen präsent sein) und für die Vorteile werben: breite Ausbildung mit der Möglichkeit, sich später zu spezialisieren und sich auf dem 2. Bildungsweg oder durch Traineeprogramme im Unternehmen etc. weiterzubilden. Eine Ausbildung ist nicht das Ende der Karriereleiter, sondern die erste Sprosse und auch ohne akademischen Titel kann man in vielen Bereichen sehr erfolgreich sein.  Auch der praktische Bezug bei einer Ausbildung sollte in den Vordergrund gestellt werden.

Immer mehr Schulabgänger entscheiden sich aufgrund der besseren Bedingungen für ein Studium. Was bedeutet dies für Ausbildungsberufe im Zusammenhang mit der Akademisierung. Werden in Zukunft vielleicht auch Tischler, Konditoren und Maler in einer Hochschuleinrichtung ausgebildet?

Nathalie Scheerer-Gulde: Ich sehe diesen Trend sehr skeptisch, da nicht jeder Schulabgänger die Reife für ein Studium hat (Stichwort Selbstorganisation, Selbstmotivation). Gerade im Handwerk ist der praktische Bezug absolut erforderlich, um gut ausgebildete Handwerker zu haben. Die „besseren Bedingungen“ müssten in der Gesellschaft, in der Schule, in der Presse genauer hinterfragt werden, um individuell zu entscheiden, ob diese wirklich besser sind (siehe Punkt 3).

Fachkräfte werden zwar dringend gebraucht, doch muss der Beruf auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit garantieren können. Was raten Sie der kommenden Generation, die vor der Entscheidung Ausbildung oder Studium steht?

Nathalie Scheerer-Gulde: Eine gute ausgebildete Fachkraft verdient in manchen Berufen mehr als ein Akademiker und die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist damit gegeben. Aber es gibt leider, z. B. in den Pflegeberufen, auch andere Beispiele. Und bei einer Entscheidung für eine Ausbildung bleibt immer noch die Option später zu studieren. Im Vordergrund sollte auf alle Fälle das Interesse für das berufliche Ziel sein, denn nur wenn ich „für etwas brenne“, bin ich auch erfolgreich – mit oder ohne Studium, denn: Beruf kommt auch von „Berufung“.

Dieses Jahr sind erneut 15.000 weniger Lehrstellen angeboten worden. Hinzu kommt, dass trotz des geringeren Angebots ein großer Teil der Lehrplätze unbesetzt bleibt. Welche Prognose geben Sie für die Ausbildungsbranche?

Nathalie Scheerer-Gulde: Es wird weiterhin angespannt bleiben, obgleich durch die Pandemie und das „Pausieren der Schulabgänger“ nun wieder etwas mehr potentielle Bewerber auf dem Markt sein müssten.

Frau Scheerer-Gulde, vielen Dank für das Gespräch!

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Nathalie Scheerer-Gulde

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