Brexit: Erhebliche Verzögerungen bei Warenabfertigung und Visa-Erteilungen – Dr. Christian Andrelang

Interview mit Dr. Christian Andrelang
Wir sprechen mit Rechtsanwalt Dr. Christian Andrelang, LL.M. Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht und für Handels- und Gesellschaftsrecht, über die Auswirkungen eines unkontrollierten Brexits.

Ein unkontrollierter Brexit wird immer wahrscheinlicher. Was wären die schlimmsten, sofort auftretenden Konsequenzen für Unternehmen, die in GB tätig sind bzw. dort produzieren?

Dr. Christian Andrelang: Bei einem unkontrollierten Brexit ist Großbritannien nicht mehr Mitglied des europäischen Binnenmarktes und der Zollunion. In Konsequenz entfallen für Unternehmen aus Großbritannien die EU-Grundfreiheiten. Für in Großbritannien tätige oder produzierende Unternehmen werden im Fall eines unkontrollierten Brexits daher vor allem die Anwendbarkeit der EU-Zollregeln für Importe und Exporte relevant. Diese Regeln für Zölle, Abgaben und Steuern gelten automatisch ab dem 1. Januar 2021. Unternehmen müssen daher die Zollpflichtigkeit ihrer Waren prüfen, sich bei den Zollbehörden registrieren und sich um die zollrechtlichen Bewilligungen einschließlich zollrechtlicher Erleichterungen kümmern. Dies bedeutet für Unternehmen zusätzlich einen erhöhten Verwaltungsaufwand bei Zollanmeldungen sowie Zeitverlust bei der Zollabfertigung. Unternehmen müssen auch mit sonstigen Handelshemmnissen wie Quotenbeschränkungen oder Einfuhrverboten rechnen. Unternehmen, die aus Großbritannien in die EU exportieren, sollten jedoch prüfen, ob sie den Status als so genannter Zugelassener Wirtschaftsbeteiligter beantragen können. Dies kann die Zollabfertigung erheblich erleichtern. Auch die Arbeitnehmer-Freizügigkeit ist aufgehoben. Wenn Unternehmen aus Großbritannien seine Angestellten in die EU einreisen lassen möchte, insbesondere zu geschäftlichen Zwecken, sollte es die Pflichten für Arbeits- und Reise-Visa prüfen. Ebenso entfällt die Niederlassungsfreiheit. Unternehmen aus Großbritannien können nicht mehr wie bisher Niederlassungen gründen. Kurzfristige Rechtsänderungen können sich jedoch auch in Großbritannien ergeben. Großbritannien hat mehrfach betont, ein eigenes Beihilferecht in Großbritannien einführen zu wollen. Unternehmen in Großbritannien sollten daher auch prüfen, ob Großbritannien zur Stärkung der eigenen Wirtschaft Hilfsprogramme auflegt, um negative Brexit-Folgen abzufedern.

Welche Branchen sind aktuell am stärksten durch Verwerfungen vom Brexit betroffen?

Dr. Christian Andrelang: Sämtliche exportierende Unternehmen in der EU und in Großbritannien werden stark betroffen sein. Das gilt meines Erachtens branchenübergreifend, insbesondere weil komplexe Lieferketten empfindlich gestört werden können. Unmittelbar berührt dürften insbesondere Unternehmen aus den Bereichen Markenprodukte, Automobilhersteller, Automobil-Zulieferindustrie, Pharma und Fischerei sein. Auch der Onlinehandel könnte insgesamt leiden.

Welche rechtlichen Grundlagen würden für den Handel mit Unternehmen aus GB bei einem unkontrollierten Brexit Anwendung finden?

Dr. Christian Andrelang: Verlässt Großbritannien die EU ohne Abkommen über die zukünftigen Handelsbeziehungen, ist Großbritannien ein so genannter Drittstaat. Für die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien gelten dann die Regelungen der WTO (World Trade Organisation), die insbesondere Zölle auf Waren und Dienstleistungen erlauben. Vertragsverhältnisse, insbesondere Lieferverträge zwischen Unternehmen, bestehen jedoch auch im Fall eines ungeregelten Brexits uneingeschränkt fort. Diese Verträge regeln somit weiterhin die Handelsbeziehungen zwischen Unternehmen, auch wenn Zölle auf Waren erhoben werden. Lieferverträge, die vor dem ersten Brexit-Votum im Juni 2016 geschlossen wurden, wurden oftmals nicht an einen drohenden Brexit angepasst; sie treffen häufig keine Regelungen für den tatsächlichen Brexit. Dies kann sich nun als äußerst misslich erweisen, wenn insbesondere Währungsklauseln, Preisregelungen oder Lieferzeiten aufgrund von Zöllen und Zollabfertigungen nicht mehr passen. Bei einem unkontrollierten Brexit ist in der Anfangszeit mit erheblichen Verzögerungen bei der Warenabfertigung oder bei erforderlichen Visa-Erteilungen zu rechnen. Hierauf müssen sich alle Unternehmen vorbereiten. Ohne Lieferverträge finden Lieferungen unter der Prämisse des internationalen Privatrechts statt, das das anwendbare Recht und damit den rechtlichen Rahmen vorgibt. EU-Verordnungen zum anwendbaren Recht oder das europäisches Kartell- und Beihilferecht dagegen verlieren mit Ablauf des 31. Dezember 2020 gegenüber Großbritannien ihre Gültigkeit. EU-Regelungen zur Produktsicherheit oder zum Umweltschutz müssen exportierende Unternehmen jedoch weiter beachten. Großbritannien ist ab dem 1. Januar 2021 jedoch berechtigt, insoweit eigene Regelungen zu treffen. Unternehmen müssen daher sorgfältig prüfen, ob ihre Produkte, die sie in die EU importieren wollen, weiterhin EU-Standards entsprechen. Auch datenschutzrechtlich ist Großbritannien bei einem Brexit ohne Handelsabkommen als Drittland anzusehen, so dass besondere Schutzmaßnahmen der Datenschutz-Grundverordnung greifen. Unternehmen in der EU ist daher nicht mehr so einfach wie bisher möglich, Daten nach Großbritannien zu transferieren. Unternehmen, zwischen denen ein Datenaustausch stattfindet, müssen sich daher eigenständig für eine rechtliche Grundlage hierfür kümmern.

Wie können sich Unternehmen vorbereiten, die unmittelbar vom Brexit betroffen sind?

Dr. Christian Andrelang: Generell gilt, Lieferverträge auf Brexit-Auswirkungen zu prüfen, insbesondere die Zahlungsbedingungen oder Lieferfristen. Einige Unternehmen haben bereits nach der ersten Brexit-Abstimmung in Großbritannien damit begonnen, Klauseln für den Fall des Brexits in ihre Lieferbeziehungen aufzunehmen. Diese Klauseln können entweder Vertragsanpassungen für den Fall des Brexits vorsehen oder auch Kündigungsrechte. Diese Klauseln verlagern das Problem jedoch möglicherweise nur, weil Vertragsanpassungen gemeinsame Gespräche erfordern. Zwar wird im Regelfall beiden Parteien an einer Fortsetzung der Vertragsbeziehung gelegen sein, aber die Vorstellungen über den Inhalt und die Reichweite möglicher Vertragsanpassungen mögen abweichen. Unternehmen sollten daher frühzeitig mit Gesprächen mit ihren Vertragspartnern beginnen. Auf der unternehmerischen Seite sind auch Lieferketten und Vertriebswege neu zu evaluieren. Dass dies aufgrund der COVID19-Krise ohnehin oftmals notwendig ist, macht die Situation für Unternehmen nicht besser. Auf längere Sicht müssen sich Unternehmen über die unterschiedlichen Rechtsentwicklungen in der EU und Großbritannien auf dem Laufenden halten, insbesondere im B2C-Online-Handel, beim Verbraucher- und Datenschutz und dem Kartell- und Beihilferecht. Unternehmen sollten auch damit rechnen, dass sich ihre Lieferanten oder Vertragspartner nicht rechtzeitig auf den Brexit vorbereitet haben und daher in wirtschaftliche Schieflage geraten können. Zahlungsbedingungen, insbesondere Währungsklauseln, Vereinbarungen zu Sicherheiten bei Vorleistung und Zahlungsfristen, sollten daher ebenfalls geprüft und angepasst werden, um nicht mit Forderungen auszufallen.

Welche sind die häufigsten Mandate, die Sie im Zusammenhang mit dem Brexit betreuen?

Dr. Christian Andrelang: Die Prüfung der vertraglichen Situation bei Liefer-, Vertragshändler- und Handelsvertreterverträgen steht im Vordergrund. Wenn die Unternehmen vertragliche Regelungen in dem stillschweigenden Vertrauen getroffen haben, dass der innergemeinschaftliche Handel in der EU fortbesteht, fragen viele Mandanten, ob diese Klauseln weiter uneingeschränkt Anwendung finden oder angepasst werden können. Insbesondere aufgrund von Zollabfertigungen drohen vereinbarte Lieferzeiten nicht mehr haltbar zu sein. Hier stellt sich die Frage, ob Verzugsklauseln und Pönalen greifen oder ob auch insoweit von einer so gravierenden Änderung der Geschäftsgrundlage auszugehen ist, dass eine Vertragsanpassung erforderlich wird; hierfür wird es aber auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses ankommen. Zudem können Anpassungen des Vertragsgebiets, von Rechtsverweisungen im Vertrag und des Gerichtsstands erforderlich sein.

Herr Rechtsanwalt Dr. Andrelang, vielen Dank für das Gespräch.

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