Im neuen Koalitionsvertrag steht, dass bald ein Bürgergeld eingeführt werden soll. Können Sie uns erklären was man sich unter dieser Maßnahme vorstellen kann?
Im Koalitionsvertrag 2021-2025 „Mehr Fortschritt wagen“ wurde festgehalten, dass die Grundsicherung durch ein neues Bürgergeld abgelöst werden soll, damit die Würde des Einzelnen geachtet und gesellschaftliche Teilhabe besser gefördert wird (s. Koalitionsvertrag unter I., S. 5 a.E.). Diesem Programmsatz gemäß wurde nunmehr ein Referentenentwurf vorgelegt (https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Referentenentwuerfe/ref-buergergeld.pdf?__blob=publicationFile&v=1), der den Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze enthält. Wie der Titel bereits verdeutlicht, handelt es sich bei dem Bürgergeld um keine neue Sozialleistung, sondern lediglich um eine Modifikation der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Es werden somit lediglich einige Vorschriften geändert, wobei es den Koalitionspartnern v.a. um einen erweiterten Vermögensschutz und die Anerkennung der Angemessenheit der Wohnung für einen Zeitraum von 2 Jahren geht.
Hinsichtlich der Integration in Arbeit werden eine Beratung auf Augenhöhe und die Begründung einer Vertrauensbeziehung angestrebt (s. jeweils S. 59 im Koalitionsvertrag).
Das Bürgergeld ist also das neue Hartz IV. Inwiefern unterscheiden sich Bürgergeld und die bisherige Grundsicherung und ist Ihrer Meinung nach das neue System besser?
Das Bürgergeld-Gesetz sieht in § 7b des Referenten-Entwurfs eine eigenständige Regelung zur Erreichbarkeit vor, mit der die im SGB III geltende Erreichbarkeitsanordnung im SGB II verankert und erweitert wird. Der bisher strikte Leistungsausschluss bei fehlender Erreichbarkeit wird dabei aufgelockert.
Für Auszubildende vor Vollendung des 25. Lebensjahres sowie bestimmte Schülerinnen und Schüler ist im Referentenentwurf ein höherer Erwerbstätigenfreibetrag vorgesehen. Es wurde jedoch versäumt, die Freibetragsregelungen insgesamt attraktiver zu gestalten, sodass es nach wie vor dabei bleibt, dass vom gesamten Erwerbseinkommen – ohne Nachweis höherer Aufwendungen – ein maximaler Freibetrag von 330,00 EUR verbleibt. Es darf daher bezweifelt werden, dass den Freibeträgen ein ausreichender Anreiz zukommt.
Erheblich ist die Neugestaltung bei der Berücksichtigung von Vermögen, weil gemäß § 12 Abs. 1 SGB II n.F. für eine Karenzzeit von 2 Jahren eine Vermögensberücksichtigung unterbleibt, sofern das Vermögen nicht erheblich ist. Außerdem verlängert sich die Karenzzeit bei Unterbrechungen des Leistungsbezuges und beginnt von neuem, wenn zuvor für 2 Jahre keine Leistungen bezogen wurden. Die Erheblichkeitsschwelle wird erst ab einem Vermögen von 60.000 EUR für die leistungsberechtigte Person sowie 30.000 EUR für jede weitere mit dieser in der Bedarfsgemeinschaft lebende Person erreicht (§ 12 Abs. 2 S. 2 SGB II n.F.). Zudem wurden hinsichtlich der selbst genutzten Immobilie Wohnflächenvorgaben gemacht, die sich bisher nur aus der Rechtsprechung des BSG ableiten ließen.
Ein Kernstück des Bürgergeld-Gesetzes ist in der „Potenzialanalyse und Kooperationsplan zur Verbesserung der Teilhabe“ einschließlich der Vertrauenszeit und dem Schlichtungsverfahren in den §§ 15 ff. SGB II n.F. zu sehen. Der Grundsatz vom Fördern und Fordern im bisherigen SGB II war in der Praxis unausgewogen und geprägt vom Einfordern von Pflichten der Hilfebedürftigen – oftmals durch vorformulierte, nicht verhandelbare Eingliederungsvereinbarungen – und weniger durch ein Eingehen auf die Wünsche der Betroffenen. Einher mit den vorbenannten Neuregelungen gehen die geänderten Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen der Hilfebedürftigen.
Während also in Bezug auf den Umgang mit Erwerbseinkommen das Bürgergeld keine nennenswerte Besserung bringt, sind die Neuregelungen betreffend das Vermögen und die Anerkennung der Unterkunftskosten zu begrüßen, weil der Aufbau einer Alterssicherung möglich bleibt, und Umzüge nicht mehr so häufig notwendig werden. Angesichts der kurzen Vorlaufzeit ist aber nicht damit zu rechnen, dass sich die geplanten Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit ohne Weiteres realisieren lassen. Gerade hinsichtlich des angedachten Schlichtungsverfahrens erscheint eine zeitnahe Umsetzung unwahrscheinlich.
Obwohl vereinzelte Vorschriften des Bürgergeld-Gesetzes zu begrüßen sind, ist in der Praxis eine wesentliche Besserung für die Betroffenen nicht zu erwarten. Ich gehe vielmehr von steigenden Problemen bei dem Zugang zum Bürgergeld aus. Angesichts des erweiterten Vermögensschutzes und der Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten für i.d.R. 2 Jahre ist damit zu rechnen, dass die Jobcenter bei jeder Antragstellung einen noch höheren bürokratischen Aufwand betreiben werden, um den Kreis der Leistungsbezieher möglichst gering zu halten. Jedenfalls war von einem vereinfachtem Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie i.S.d. § 67 SGB II in einer Vielzahl von Fällen nichts zu spüren.
Die bisherige Grundsicherung war schon lange Zeit im deutschen System eingegliedert. Warum planen die Ampelpartner jetzt eine Abkehr von Hartz IV?
Das SGB II wurde zwar zum 01.01.2005 eingeführt, weshalb es im deutschen System mittlerweile verwurzelt ist. Das Gesetz hat sich jedoch alles andere als bewährt, ist vielmehr als unausgegoren zu bezeichnen. Die Mängel des Gesetzes zeigen sich nicht nur daran, dass es mehr als 100 mal geändert wurde. Sondern auch die immense Zahl der gerichtlichen Verfahren aus dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende und die anhaltende Inanspruchnahme der Sozialgerichtsbarkeit machen deutlich, dass das SGB II erhebliches Konfliktpotential enthält. Nachdem das BVerfG am 09.02.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) mit seinem Grundsatzurteil die bisherigen Vorschriften zu den Regelbedarfen mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt hat, sind aufgrund des Urteils vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) auch noch vereinzelte Sanktionsvorschriften kassiert worden. Das SGB II hat mithin ein schlechtes Image und konnte die in es gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Eine Abkehr von Hartz IV erscheint daher aus Sicht der Koalitionspartner nur folgerichtig.
Wann wird das Bürgergeld eingeführt und wie hoch wird es ausfallen?
Die Einführung des Bürgergeldes ist überwiegend zum 01.01.2023 geplant (Art. 11 des Referenten-Entwurfs). Die Leistungshöhe wird sich längerfristig grundsätzlich nicht von derjenigen des Arbeitslosengeldes II unterscheiden, da weiterhin an den Regelbedarfen festgehalten wird, die erhöhten Freibeträge nur einer geringen Zahl von Leistungsberechtigten zugutekommen und die Anerkennung der tatsächlichen Unterkunftskosten auch bisher schon über §§ 22 Abs. 1 S. 1, 3 und 4, 67 Abs. 3 S. 1 SGB II zeitlich befristet erfolgte. Die zum Jahreswechsel vorgesehene Anhebung der Regelbedarfe ist nicht die Folge der Einführung des Bürgergeldes, sondern Teil des geplanten 3. Entlastungspakets. Lediglich der Anpassungszeitraum der jährlichen Erhöhung beim Bürgergeld soll sich ändern, damit jeweils die zu erwartende regelbedarfsrelevante Inflation im Jahr der Anpassung miteinbezogen wird (vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/drittes-entlastungspaket-2082584 unter: Einführung des Bürgergeldes).
Die Sanktionen sorgten im Hartz-IV-System immer wieder für Kritik. Wie verhält es sich mit dem neuen Bürgergeld und Sanktionen?
Die hohe Zahl der jährlichen Sanktionen macht deutlich, dass Strafen weder motivierend noch verhaltenssteuernd wirken. Anreizinstrumente sind insgesamt erfolgreicher als Sanktionsinstrumente zur Förderung der Annahmebereitschaft von Beschäftigungsverhältnissen, insbesondere im Niedriglohnsektor (so Göckler, Beratung im Sanktionskontext, 1. Aufl., 2009, S. 75, unter 1.5).
Beim Bürgergeld wird am grundsätzlichen Sanktionssystem festgehalten, jedoch unter Beachtung der vom BVerfG gebilligten Rechtsfolgen, einschließlich der Möglichkeit der Aufhebung der Minderung bei Nachholung der Pflicht bzw. Bereitschaft zur künftigen Pflichterfüllung. Auch kann nunmehr aus Härtegesichtspunkten von einer Leistungsminderung abgesehen werden (vgl. § 31a Abs. 3 SGB II n.F.). Erhalten bleiben außerdem die sich rechnerisch ergebenden Zahlbeträge für die Kosten der Unterkunft und Heizung, was zu begrüßen ist.
Weil die Sanktionen respektive Leistungsminderungen im Bürgergeldrecht immer noch Kürzungen des Existenzminimums vorsehen, ist dies trotz des Sanktionsurteils des BVerfG kritisch zu bewerten. Die Umstellung von Geld- auf Sach- und Dienstleistungen hätte in Erwägung gezogen werden sollen. Daher werden wohl auch weiterhin die kritischen Stimmen nicht ganz verstummen.
Inwieweit wird Ihrer Meinung nach die Einführung des Bürgergeldes Einfluss auf den Staatshaushalt, den Bearbeitungsaufwand sowie auf die Wirtschaft nehmen?
Aus dem Referenten-Entwurf zum Bürgergeld-Gesetz (S. 6, unter d.) geht hervor, dass mit dem Gesetzentwurf Mehrausgaben in Gestalt von Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand verbunden sind, die von rund 650 Millionen EUR im Jahr 2023 auf 1,7 Milliarden EUR im Jahr 2026 anwachsen werden. Die prognostizierten Einsparungen beim laufenden Erfüllungsaufwand in Höhe von rund 50 Millionen EUR jährlich sind wegen des hohen Bearbeitungsaufwands (s. hierzu sogleich) nicht zu erkennen. Insgesamt ist folglich von erheblichen Mehrkosten auszugehen.
Der Bearbeitungsaufwand beim Bürgergeld wird kaum ein anderer als beim Arbeitslosengeld II sein. Vermögensprüfungen haben nach wie vor zu erfolgen. Im Hinblick auf die Unterbrechung und den Neubeginn beim Vermögensschutz und hinsichtlich der Unterkunftskosten dürfte sich der Verwaltungsaufwand sogar noch erhöhen. Dies gilt z.B. bei Veränderungen in der Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaften, weil dann aktenübergreifend gearbeitet werden muss, um die Anspruchsberechtigung zu prüfen. Ein Mehraufwand ist gleichsam bezüglich der Leistungen zur Eingliederung in Arbeit zu erwarten. Völlig unklar ist auch, wie eine Kontrolle der mindestens 2-jährigen Leistungsunterbrechung erfolgen soll, wenn die betreffende Person in diesem Zeitraum in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jobcenters gewechselt hat.
Einfluss auf die Wirtschaft dürfte das Bürgergeld nicht haben. Es bleibt nämlich abzuwarten, ob der Vorrang des Vermittlungsvorrangs tatsächlich zugunsten der Förderung der Weiterbildung und Qualifizierung aufgegeben wird (vgl. hierzu S. 60 des Koalitionsvertrages). Weiterbildung und Qualifizierung sind mit zusätzlichen Kosten für die Jobcenter verbunden, welche diese erfahrungsgemäß scheuen.