Ringo Krause: Die Grenze der Meinungsfreiheit bilden allgemeine Gesetze

Interview mit Ringo Krause
Ringo Krause ist Rechtsanwalt und freischaffender Künster, er ist Geschäftsführer der Galerie Supernova und Vorstand des Kunstvereins Kunstrial e. V. Im Interview spricht er über Account-Löschungen in Folge der Stürmung des US-Kapitols und zeigt rechtliche Wege im Falle rufschädigender Veröffentlichungen auf.

Nach den gewaltsamen Ausschreitungen und der Stürmung des Kapitols in Washington haben die großen Social-Media-Netzwerke Tausende Accounts gelöscht. Ist dieser Eingriff in die Meinungsfreiheit aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Ringo Krause: Die Frage lässt sich in ihrer Pauschalität nicht beantworten. Es kommt auf die Betrachtung jedes Einzelfalls an, ob die jeweilige Löschung gerechtfertigt war. Dies ist nicht zuletzt anhand der Nutzungsbedingungen, die jede Plattform bereitstellt, zu beurteilen. Die Sperrungen bzw. Löschungen werden von den Plattformen in der Regel mit Verstößen gegen die Nutzungsbedingungen begründet. Dies gilt auch für den prominentesten Fall: ob die Löschung der Accounts von Donald Trump gerechtfertigt war, ist derzeit Gegenstand einer höchst kontrovers geführten Diskussion. Dabei ist zu beachten, dass der Löschung zahlreiche Warnungen vorausgingen. Problematische Beiträge wurden zunächst gekennzeichnet. Später wurden auch einzelne Tweets des ehemaligen Präsidenten gelöscht. Erst nachdem sich Trumps Verhalten weiter zuspitzte und in der Stürmung des Kapitols ihren traurigen Höhepunkt fand und eine noch dramatischere Eskalation der Sicherheitslage bei der Vereidigung des neuen Präsidenten Biden drohte, entschied man sich zu einer Löschung des Accounts. Der Twitterchef selbst begründete den Schritt als ein Mittel zur Gefahrenabwehr. Dieses Argument lässt sich anhand der Todesfälle beim Sturm auf das Kapitol nicht von der Hand weisen. Das Leben von US-Bürgern und die Bedrohung der Sicherheit von Bundesorganen sind erhebliche Rechtsgüter, die es gegenüber der Meinungsfreiheit des Einzelnen abzuwägen gilt. Meinungsfreiheit wird nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre Grenze in den allgemeinen Gesetzen. Zudem müssen Plattformbetreiber es nicht hinnehmen, dass ihre Dienste für Aufrufe zu Gewalt oder für die Begehung von Straftaten missbraucht werden. Dem ehemaligen Präsidenten Trump wird „Anstiftung zum Aufruhr“ vorgeworfen, was auch die Grundlage seines zweiten Amtsenthebungsverfahrens ist. Daher lässt es sich juristisch gut vertreten, in einem solchen Konfliktfall die Meinungsfreiheit zum Wohl höherstehender Rechtsgüter einzuschränken. Allerdings sehen nicht nur die Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch der Twitter Chef Dorsey selbst die Löschung problematisch. Dadurch, so Dorsey, sei ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden. Es geht insbesondere um die Frage, wieviel Macht Einzelne und Unternehmen auf die weltweite öffentliche Diskussion und Meinungsbildung ausüben dürfen. Die Forderung nach einer gesetzlichen Regulierung steht im Raum.

Äußerungen in der Öffentlichkeit sind in Deutschland nicht uneingeschränkt von der Meinungsfreiheit gedeckt. Welche Grenzen setzt das deutsche Recht der Meinungsfreiheit?

Ringo Krause: Das Grundgesetz formuliert in Art. 5 Abs. 2 drei Schranken für die Meinungsfreiheit, das sind die allgemeinen Gesetze, der Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre. So ist die Ausübung der Meinungsfreiheit beschränkt durch das Strafrecht, und findet beispielsweise ihre Grenze in der Volksverhetzung (§ 130 StGB). Speziell im Bereich Social Media ist in Deutschland das am 1. Oktober 2017 in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (sog. Facebook-Gesetz) zu beachten. Es regelt für Anbieter sozialer Netzwerke den Umgang mit Nutzer-Beschwerden über Hasskriminalität und mit anderen strafbaren Inhalten. Kern der Regelung ist ein den Plattformen auferlegtes Beschwerdemanagement, das Anbieter sozialer Netzwerke dazu verpflichtet, rechtswidrige Inhalte nach Kenntnis und Prüfung zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren.

Welche Maßnahmen können Personen und Unternehmen ergreifen, um gegen rufschädigende Veröffentlichungen im Netz vorzugehen?

Ringo Krause: Hier muss man mehrfach differenzieren. Beginnen wir mit Tatsachenbehauptungen. Der Ruf einer Person lässt sich nicht nur durch die Verbreitung falscher Informationen schädigen. Auch die Wahrheit kann schmerzhaft sein und geeignet, den Ruf eines Menschen zu zerstören. Unterschieden werden muss auch danach, von wem die Veröffentlichung ausging. So unterliegen Veröffentlichungen durch Presse und Rundfunk besonderen Grundsätzen. Presse- und Rundfunkgesetze legen den Maßstab für journalistische Sorgfaltspflichten. Werden diese eingehalten, können Presse- und Rundfunkorgane gewisse Privilegien in Anspruch nehmen, auf die sich eine Privatperson bei ihren Veröffentlichungen nicht berufen kann. Wird ein Beitrag unter Beachtung der journalistischen Sorgfaltspflichten veröffentlicht, so kann sich das jeweilige Presse- oder Rundfunkorgan auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) berufen. Im Ergebnis führt dies zu einer Beweislastumkehr. Stellt sich die Tatsache im Nachhinein als falsch heraus, kann der Betroffene lediglich Unterlassung (die Nachricht darf nicht erneut verbreitet werden) bzw. Richtigstellung verlangen. Lässt sich der Wahrheitsgehalt nicht aufklären, entfällt für journalistische Beiträge die sonst geltende Strafbarkeit des § 186 StGB (Beweislastumkehr).

Wurde die journalistische Sorgfaltspflicht jedoch verletzt, dann haftet das Presse- bzw. Rundfunkorgan bereits, wenn sich die Wahrheit der behaupteten Tatsache nicht mehr aufklären lässt. In diesem Fall (und natürlich, wenn sich die Behauptung als falsch herausstellt), stehen dem Betroffenen neben Unterlassungs- und Widerrufsansprüchen (Richtigstellung) auch Schadens- und Geldersatzansprüche zu.

Bei Tatsachenbehauptungen ist zudem die zeitliche Komponente zu beachten. Nachrichten über Personen sollten aktuell sein und über länger zurückliegende Ereignisse darf nicht ohne weiteres berichtet werden (sog. Recht auf Vergessen). So wird zum Beispiel als Faustregel angenommen, dass nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe das Resozialisierungsinteresse des Täters überwiegt und die Meinungsfreiheit zurücktreten muss.

Im Bereich der Meinungsäußerungen gilt die Grenze der sog. Schmähkritik, das heißt, auch negative Meinungsäußerungen muss man sich bis zu einem bestimmten Maß gefallen lassen. Erst, wenn die Meinungsäußerung erkennbar allein dazu missbraucht wird, die Ehre des Betroffenen herabzuwürdigen, fällt die Interessenabwägung zugunsten dem Recht der persönlichen Ehre aus. Dagegen können Unterlassungs- und in schweren Fällen auch Geldersatzansprüche geltend gemacht werden.

Im Presse- und Rundfunkrecht gibt es noch den Anspruch auf Gegendarstellung. Dieser trägt dem Umstand Rechnung, dass Verfahren, die sich gegen rufschädigende Veröffentlichungen richten, sich lange hinziehen können, und dem Betroffenen wenig geholfen ist, wenn erst nach Jahren eine Entscheidung ergeht, die Rufschädigung sich aber inzwischen in der Öffentlichkeit verfestigt hat. Der Anspruch auf Gegendarstellung (vgl. § 10 Berliner Pressegesetz) ist unabhängig von der Feststellung, ob eine Veröffentlichung rechtswidrig war, und vereinfacht somit die Durchsetzung des persönlichen Geltungsanspruchs. Es genügt das Betroffensein von einer Tatsachenbehauptung sowie ein berechtigtes Interesse an einer Gegendarstellung. Der Anspruch ist unverzüglich durch schriftliche Einreichung einer Gegendarstellung beim jeweiligen Presseorgan geltend zu machen. Gerichtlich kann der Anspruch ausschließlich im Wege der einstweiligen Verfügung geltend gemacht werden, ein Hauptsacheverfahren gibt es nicht.

Das Verfahren beginnt in der Regel mit dem Gang zum Anwalt, es folgt ggf. eine Abmahnung, alternativ kann eine Gegendarstellung verlangt werden. Scheitern diese Versuche einer außergerichtlichen Einigung, kommen ein einstweiliges Verfügungsverfahren sowie ein Hauptsacheverfahren in Betracht, abhängig vom jeweils geltend gemachten Anspruch.

Welche Anforderungen müssen für eine Einstweilige Verfügung gegen den Herausgeber von rufschädigender Berichterstattung erfüllt sein?

Ringo Krause: Die Anforderungen hängen davon ab, welcher Anspruch geltend gemacht wird. Für die Darlegung eines Unterlassungsanspruchs gelten andere Voraussetzungen als für die Darlegung eines Gegendarstellungsanspruches. Gleich sind die Mittel der Glaubhaftmachung (das ist ein vereinfachtes Beweisverfahren). Zulässig sind nur präsente Beweismittel, das heißt Zeugen müssen im Fall einer mündlichen Verhandlung zum Termin mitgebracht werden, das Gleiche gilt für Gegenstände, die in Augenschein genommen werden sollen. Zulässig ist im Gegensatz zum regulären Beweisverfahren auch die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung. Die kann auch von den Parteien stammen, welche im regulären Beweisverfahren als Beweismittel praktisch kaum eine Bedeutung haben. Anders im einstweiligen Verfügungsverfahren, hier hat ihrer Aussage in Form einer eidesstattlichen Versicherung erheblichen Wert, der nicht selten entscheidend für den Ausgang des Verfahrens ist. Von großer Bedeutung im einstweiligen Verfügungsverfahren ist zudem das Erfordernis der Dringlichkeit. Dringlichkeitsschädlich gewertet wird jede schuldhafte Verfahrensverzögerung. Mit Fristverlängerungsanträgen muss man daher sehr vorsichtig sein, ebenso sollte zwischen der Kenntnisnahme der Rechtsverletzung und der Einreichung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung möglichst nicht mehr als ein Monat liegen, sonst droht die Gefahr der Abweisung wegen fehlender Dringlichkeit.

Ist es möglich Plattformbetreiber wie Google oder Facebook gerichtlich zur Löschung von negativen Beiträgen zu zwingen? Wie kompliziert sind solche Verfahren?

Ringo Krause: Sicherlich ist dies möglich, wie zahlreiche Entscheidungen belegen. Etwas aufwändiger sind diese Verfahren vor dem Hintergrund dass Plattformbetreiber (derzeit noch) nicht unmittelbar für nutzergenerierte Inhalte haften, sondern erst, sobald sie von einem Rechtsverstoß Kenntnis erlangt haben. Ab Kenntnisnahme haften sie nach den Grundsätzen der sogenannten Störerhaftung. Ergänzend zu dem sonst üblichen Vorgehen (Abmahnung – einstweilige Verfügung – Klage) ist daher das sogenannte Notice-and-Takedown-Verfahren vorgeschaltet, welches die Funktion hat, den Plattformbetreiber von einem Rechtsverstoß in Kenntnis zu setzen und ihm Gelegenheit zu geben, den beanstandeten Inhalt zu entfernen. Im Übrigen unterscheiden sich solche Verfahren nicht von den herkömmlichen Verfahren. Des Weiteren können Betroffene auf die eingangs erwähnten Regulierungsmechanismen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zurückgreifen. Ob diese einen effektiveren Weg der Rechtsdurchsetzung bieten, ist jedoch zweifelhaft und lässt sich zumindest nicht pauschal für jede Fallgestaltung vorhersagen. In Fällen offensichtlicher Rechtsverletzung dürfte eine Beschwerde beim Plattformbetreiber wahrscheinlich eher Sinn machen als bei Sachverhalten mit komplizierter Rechtslage. Da das plattforminterne Beschwerdemanagement kostenlos ist und auch den direktesten Weg zur Plattform eröffnet, empfiehlt es sich, dieses Verfahren parallel zu etablierten Rechtsschutzmöglichkeiten anzuwenden.

Sind die Gesetze zum Schutz von Geschädigten vor rufschädigender Berichterstattung ausreichend?

Ringo Krause: Eine echte Gretchenfrage: wie viele Gesetze brauchen wir eigentlich (noch)? Tatsächlich vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht neue Gesetze auf den Weg gebracht werden. Die Flut von Gesetzen und Regeln wächst ständig und selbst die erfahrensten Juristen haben längst keinen Überblick mehr über sämtliche Quellen des Rechts. Schon heute kommt man im juristischen Bereich ohne Spezialisierung kaum noch aus. Aber auch innerhalb der Spezialmaterien wächst die Regelungsdichte und mit ihr der Bedarf nach noch mehr Spezialisten. Es ist absehbar, dass wir irgendwann an einem Punkt ankommen werden, wo eine große Deregulierung erforderlich sein wird, wollen wir nicht im Dschungel von Gesetzen und Verordnungen untergehen. Im Steuerrecht wird dies schon seit Jahrzehnten gefordert.

Ich denke, ein besserer Weg wäre die Entwicklung effektiverer Kommunikationsstandards. Seit Jahrzehnten sind Streitschlichtungsverfahren, wie die Mediation, auf dem Vormarsch. Sie haben schon lange auch Eingang in die Verfahrensordnungen der Gerichte gefunden. An den meisten Gerichten finden sich inzwischen zu Mediatoren ausgebildete Richter, die in jeder Verfahrenslage angerufen werden können, um den Streit auf der Basis eines Konsenses beizulegen. Vergessen sie nicht, dass das Recht aus der Gewalt entstanden ist. Gewalt schafft Recht. Wer sich auf sein Recht beruft, kommt mit anderen Mitteln nicht mehr weiter. Die Grundlage eines jeden Rechtsstreits ist das Versagen der Kommunikation. Man greift zu den Waffen. Noch heute sprechen wir von legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt. Die Presse selbst wird unter Juristen als die vierte Gewalt bezeichnet.

Verlassen wir den Pfad der Gewalt und versuchen wir, unsere Probleme mit Mitteln der Dialektik im Konsens aufzulösen. Dann brauchen wir irgendwann vielleicht gar keine Gesetze mehr.

Herr Krause, vielen Dank für das Gespräch.

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