Sandra Bitter: Restschuldbefreiung befreit nicht von allen Forderungen

Rechtsanwältin Sandra Bitter ist Fachanwältin für Insolvenzrecht der bitter . ehrhardt RECHTSANWÄLTE GbR. Im Interview spricht sie über den Ablauf eines Insolvenzverfahrens und welche Forderungen bestehen bleiben.

Sandra Bitter

Die Corona-Pandemie hat erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen. Nicht nur Unternehmen sind betroffen, sondern auch Privathaushalte, die aufgrund von Kurzarbeit, Auftragsrückgängen von Solo-Selbstständigen oder einer Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses mit einem niedrigen Nettoeinkommen auskommen müssen. Verzeichnen Sie derzeit einen erhöhten Beratungsbedarf?

Sandra Bitter: Im Bereich der Insolvenzverfahren der natürlichen Personen verzeichnen wir einen höheren Beratungsbedarf und seit dem 01.01.2021 auch einen Anstieg der Insolvenzverfahren. Diese Entwicklung beruht aber nicht auf den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie, sondern ist der Reform der Insolvenzordnung geschuldet. Mit dem Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens wird den in finanzielle Schieflage geratenen Unternehmern und Verbrauchern ein schnellerer wirtschaftlicher Neustart ermöglicht. Die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens von sechs auf drei Jahre wird rückwirkend auch für alle Insolvenzverfahren gelten, die ab dem 1. Oktober 2020 beantragt wurden. Der Anstieg der Insolvenzverfahren der natürlichen Personen ab dem 01.01.2021 ist darauf zurückzuführen, dass diese Anträge im letzten Jahr in Ansehung der Gesetzesänderung nicht gestellt wurden, damit die betroffenen Schuldner in den Genuss der Verkürzung der Verfahrensdauer kommen. Bei den noch wirtschaftlich tätigen Solo-Selbständigen verzeichnen wir einen Covid-19-bedingten leicht erhöhten Beratungsbedarf. Hier geht es im Wesentlichen um die Möglichkeit der Fortführung eines Geschäftsmodells und die Beantragung von staatlichen Hilfen. Die Betroffenen wollen sich u. a. darüber informieren, was in einem Insolvenzverfahren auf sie zukommen könnte und welche Aussichten bestehen, trotz Insolvenzantragsstellung weiterhin selbständig tätig zu sein.

Wird die Anzahl überschuldeter Haushalte und Privatinsolvenzen in naher Zukunft stark steigen?

Sandra Bitter: Wir gehen davon aus, dass die Anzahl überschuldeter Haushalte stark steigen wird. Ein Anstieg der Insolvenzverfahren von natürlichen Personen, der auf die wirtschaftlichen Einbußen aufgrund der Covid-19-Pandemie zurückzuführen ist, wird aber erst zeitverzögert kommen. Nach der Finanzkrise 2009 stieg die Anzahl der Verbraucherinsolvenzverfahren als Konsequenz der hohen Anzahl von Unternehmensinsolvenzen. Einen ähnlichen Effekt werden wir auch 2021 sehen. Im Nachgang von Unternehmensinsolvenzen und einem damit einhergehenden Abbau von Arbeitsplätzen wird dann auch die Anzahl der Verbraucher steigen, die ihren persönlichen wirtschaftlichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können und einen Insolvenzantrag stellen müssen. Aktuell ist die Insolvenzantragspflicht für pandemiebedingt insolvenzreife Unternehmen noch bis zum 30.04.2021 suspendiert, wenn die Unternehmen einen Anspruch auf finanzielle Hilfen aus den aufgelegten Corona-Hilfsprogrammen haben und deren Auszahlung noch aussteht. Solange die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen nicht steigt, werden wir auch keinen signifikanten Anstieg der Privatinsolvenzen verzeichnen.

Bei Überschuldung gibt es die Möglichkeit einer Privatinsolvenz, um schuldenfrei zu werden. Wie läuft eine Privatinsolvenz ab?

Sandra Bitter: Wir haben in der Insolvenzordnung für ein Insolvenzverfahren von natürlichen Personen die Unterteilung in zwei Verfahrensarten: das Verbraucherinsolvenzverfahren und das Regelinsolvenzverfahren.

Der Einleitung eines Insolvenzverfahrens ist immer ein Insolvenzantrag vorgeschaltet. Ohne Antrag gibt es kein Verfahren. Den Antrag kann der Schuldner selbst oder auch ein Gläubiger stellen. Nachdem der Antrag bei dem zuständigen Insolvenzgericht eingegangen ist, prüft der Insolvenzrichter den Antrag und bestellt ggfl. einen Sachverständigen oder eröffnet das Insolvenzverfahren und bestellt einen Insolvenzverwalter. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens können die Gläubiger bei dem Insolvenzverwalter ihre Forderungen anmelden. Die Forderungen der Gläubiger werden in einem Prüfungstermin, den das Insolvenzgericht in dem Eröffnungsbeschluss bestimmt, geprüft. In dem vom Insolvenzgericht festgesetzten Berichtstermin wird der Insolvenzverwalter zu dem bisherigen Ablauf des Insolvenzverfahrens und den Befriedigungsaussichten für die Gläubiger Stellung nehmen. Nach dem Berichtstermin verwertet der Insolvenzverwalter das vorhandene Vermögen. Nach vollständiger Verwertung der Insolvenzmasse legt der Insolvenzverwalter dem Insolvenzgericht gegenüber Rechnung und das Insolvenzgericht bestimmt einen sog. Schlusstermin. Nach dem Schlusstermin wird das Insolvenzverfahren aufgehoben. Bei den natürlichen Personen, die einen Antrag auf Restschuldbefreiung gestellt haben, schließt sich die Restschuldbefreiungsphase an. Wenn keine Versagungsgründe für die Restschuldbefreiung geltend gemacht werden, wird die Restschuldbefreiung erteilt. Ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens laufen ein Verbraucher- und ein Regelinsolvenzverfahren identisch. Bei einem Verbraucherinsolvenzverfahren ist Voraussetzung für die Insolvenzantragsstellung noch das Scheitern eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans. Das Scheitern dieses Plans hat eine geeignete Stelle (z. B. eine Schuldnerberatung oder ein Rechtsanwalt) zu bestätigen. Nach Eingang des Verbraucherinsolvenzantrags bei dem Insolvenzgericht prüft der Richter noch, ob Aussichten bestehen, einen gerichtlichen Schuldenbereinigungsplan durchzuführen. Erst wenn auch für diesen keine hinreichenden Erfolgsaussichten bestehen, wird das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt.

In ein Verbraucherinsolvenzverfahren fallen alle natürlichen Personen, die zu keinem Zeitpunkt selbständig tätig waren oder ehemals Selbständige, die nicht mehr als 19 Gläubiger haben und keine Verbindlichkeiten aus Arbeitsverhältnissen (z. B. Lohnrückstände für ehemalige Arbeitnehmer, Lohnsteuerrückstände oder Verbindlichkeiten in Form von Sozialversicherungsbeiträgen). Alle anderen natürlichen Personen fallen in ein Regelinsolvenzverfahren.

Welche Voraussetzungen, Fristen und Regelungen sind bei einer Privatinsolvenz zwingend zu beachten?

Sandra Bitter: Eine Antragspflicht, wie bei den vertretungsberechtigten Organen der juristischen Personen, gibt es für natürliche Personen nicht. Es existiert keine strafbewehrte Frist für natürliche Personen zur Stellung eines Insolvenzantrags.

Voraussetzung für die Durchführung eines Insolvenzverfahrens ist neben dem Vorliegen eines Eröffnungsgrundes (drohende Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsunfähigkeit) auch das Vorhandensein einer die Verfahrenskosten deckenden Insolvenzmasse. Können die Kosten des Insolvenzverfahrens nicht durch das vorhandene Vermögen oder über einen Kostenvorschuss Dritter gedeckt werden, kann der Schuldner auch einen Antrag auf Stundung der Verfahrenskosten stellen. Die Kosten des Insolvenzverfahrens werden dem Schuldner dann bis zur Beendigung des Verfahrens bzw. bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung gestundet und von der Staatskasse beglichen. Werden die Kosten des Insolvenzverfahrens nicht gedeckt, wird das Insolvenzgericht den Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mangels Masse abweisen.

Die wirtschaftlich in Schieflage geratenen Privatpersonen sollten bei der Antragsstellung darauf achten, mit dem Insolvenzantrag auch den Antrag auf Restschuldbefreiung zu stellen. Ohne diesen Antrag, der bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorliegen muss, gibt es keine Befreiung von den nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens noch bestehenden Verbindlichkeiten.

Werden auch Schulden beim Finanzamt oder bei Sozialversicherungsträgern nach einer Privatinsolvenz gelöscht? Gibt es Schulden, die nach einer Privatinsolvenz erhalten bleiben?

Sandra Bitter: Grundsätzlich fallen in ein Insolvenzverfahren alle Forderungen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, auch die Forderungen des Finanzamtes oder die der Sozialversicherungsträger. Liegt ein zulässiger Antrag auf Restschuldbefreiung vor und werden keine Versagungsgründe gestellt, wird der Schuldner grundsätzlich von allen bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandenen Verbindlichkeiten befreit.

Es gibt in der Insolvenzordnung aber eine Auflistung von Forderungen, die von der Restschuldbefreiung ausgenommen sind. Von der Restschuldbefreiung werden z. B. Forderungen aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung, Forderungen aus rückständigem gesetzlichen Unterhalt, den der Schuldner pflichtwidrig nicht gewährt hat, oder Forderungen aus einem Steuerschuldverhältnis, sofern der Schuldner wegen einer Steuerstraftat nach den §§ 370, 373 oder 374 AO rechtskräftig verurteilt worden ist, nicht berührt. Ausgenommen von der Restschuldbefreiung sind auch Geldstrafen des Schuldners oder Verbindlichkeiten aus zinslosen Darlehen, die von Dritten zur Begleichung der Kosten des Insolvenzverfahrens gewährt wurden.

Wenn der Schuldner also wegen einer in der Insolvenzordnung aufgelisteten Steuerstraftat rechtskräftig verurteilt wurde, dann wird er bzgl. dieser Steuerverbindlichkeiten nicht von seinen Schulden befreit. Gleiches gilt rückständige Sozialversicherungsbeiträge, die über § 266a StGB als vorsätzlich unerlaubte Handlung zu qualifizieren sind. Von praktischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Nichtabführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung. Diese werden – sofern sie als vorsätzlich unerlaubte Handlung angemeldet und kein Widerspruch gegen die Qualifizierung als vorsätzlich unerlaubte Handlung eingelegt wurde – nicht von der Restschuldbefreiung umfasst. Diese Verbindlichkeiten können auch nach erfolgreichem Durchlaufen eines Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner geltend gemacht werden.

Ist es ratsam für Betroffene vor der Beantragung einer Privatinsolvenz die Beratung eines spezialisierten Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen?

Sandra Bitter: Eine anwaltliche Beratung ist immer sinnvoll. Wir stellen bei unserer täglichen Arbeit als Insolvenzverwalter immer wieder fest, dass die Betroffenen viele offenen Fragen und auch Angst haben. Sie wissen nicht, wie das Insolvenzverfahren abläuft, welche Rechte sie noch haben und wer der Insolvenzverwalter wird. Viele der Betroffenen haben jahrelang aus Angst vor einem Insolvenzverfahren mit ihren Schulden am Rande einer wirtschaftlich möglichen Existenz gelebt. Manchmal gibt es auch Insolvenzverfahren, die mit anwaltlicher Hilfe und einem durchdachten außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplan oder einem Insolvenzplan im anschließenden Insolvenzverfahren zur Befriedigung aller Beteiligten hätten gelöst werden können. Die Inanspruchnahme professioneller anwaltlicher Hilfe im Vorfeld einer Insolvenzantragsstellung scheitert in der Praxis aber oft an den finanziellen Mitteln. Die Schuldnerberatungen kümmern sich in den meisten Fällen ausschließlich um die Verbraucher und haben aufgrund der Anzahl der Hilfesuchenden lange Wartezeiten. Gerade in der aktuellen wirtschaftlichen Situation wäre es wünschenswert, wenn den Betroffenen mehr Anlaufstellen zur Verfügung stehen würden, bei denen sie sich Hilfe suchen können.

Frau Bitter, vielen Dank für das Gespräch.