Wirecard: Das ganze deutsche Finanzsystem hat sich blamiert – Dirk Domrich

Interview mit Dirk Domrich LL.M.
Wir sprechen mit Dirk Domrich LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht von der Kanzlei Ludwig Braun Domrich, über den Wirecard - Skandal und seine Folgen.

Der Skandal um den DAX-Konzern Wirecard hat die deutsche Finanzwirtschaft erschüttert. 1,9 Milliarden Euro sind verschwunden, der Konzern ist in der Insolvenz. Welche Aussichten haben die geschädigten Aktionäre wenigsten einen Teil ihres Investments wiederzusehen?

Dirk Domrich: Der Insolvenzverwalter der bankrotten Wirecard AG aus Aschheim, Michael Jaffé, bezifferte nach vorläufiger Aufstellung den Schuldenstand des Unternehmens auf 3,2 Milliarden Euro, so die Mitteilung an das zuständige Amtsgericht in München.

Sollte Wirecard tatsächlich abgewickelt werden, müssten sich die Aktionäre mit ihren Forderungen – sollten sie denn berechtigt sein– in die Reihe der Gläubiger stellen. Bei der Verteilung kommen vor den Aktionären beispielsweise noch sämtliche Banken, an die Sicherheiten abgetreten wurden. Insoweit empfehle ich jedem Aktionär sehr wohl zu überlegen, ob er Geld für eine Rechtsverfolgung aufwenden will. Die meisten Rechtsschutzversicherungen werden eine Deckungszusage nicht erteilen, wobei dies im Einzelfall zu prüfen ist.

Die Wirtschaftsprüfer von EY stehen massiv in der Kritik, weil sie zehn Jahre lang die gefälschten Bilanzen von Wirecard geprüft und testiert haben. Wie schätzen Sie die Chancen ein, EY auf Schadenersatz in Anspruch zu nehmen?

Dirk Domrich: Zunächst muss einem bewusst sein, dass ein Wirtschaftsprüfer gegenüber einem Anleger ohne Hinzutreten besonderer Umstände grundsätzlich nicht haftet. Denn zunächst einmal besteht nur ein Rechtsverhältnis zwischen dem Wirtschaftsprüfer und dem zu prüfenden Unternehmen gibt. Nur aus diesem Vertrag ergeben sich dann Vertrags- und Schutzpflichten.

Anders kann dies jedoch sein, wenn ein Wirtschaftsprüfer ein Testat erstellt, vor allem dann, wenn dieses Testat für ein börsennotiertes Unternehmen bestimmt ist und der Wirtschaftsprüfer weiß oder aber wissen muss, dass der Jahresabschluss, den er mit dem Bestätigungsvermerk (dem Testat) versieht, einen Aktienkurs beeinflussen kann oder zur Vorlage bei Banken benötigt wird. In einem solchen Fall kommen dem Wirtschaftsprüfer auch Schutzpflichten gegenüber anderen zu, so ebenen auch gegenüber den Aktionären.

Etwaige   Verfehlungen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft lassen sich erst nach Sichtung der Ermittlungsakten genau einschätzen. Aber: § 323 Abs. 2 HGB regelt, dass ein Wirtschaftsprüfer bzw. ein Wirtschaftsprüferunternehmen für Prüfungen bei börsennotierten Unternehmen bei Fahrlässigkeit maximal bis zu 4 Mio. Euro haftbar zu machen ist. Damit wäre die Haftsumme bei Wirecard begrenzt, was Klagen natürlich unattraktiv macht.

Dies Haftungsbegrenzung gilt aber nicht, wenn dem Wirtschaftsprüfer ein bedingter Vorsatz nachgewiesen werden kann. Wenn der oder die Wirtschaftsprüfer also die Fehlerhaftigkeit erkannt haben und es billigend in Kauf genommen haben, dass falsche Informationen verwendet bzw. Nachweise nicht erbracht wurden, dann können sie sich auf diese Haftungsbegrenzung nicht berufen.  Eine Nachweisführung, die Ansprüche gegen EY erfolgsversprechend macht, sehe ich derzeit nicht.

Die BaFin hat bei der Kontrolle von Wirecard wenig Engagement gezeigt und fühlte sich trotz öffentlicher Warnungen der Financial Times nicht zuständig. Was läuft schief bei der deutschen Finanzmarktaufsicht?

Dirk Domrich: Vor der Finanzkrise 2008 übersah die Behörde die wachsenden Risiken der außerbilanziellen Geschäfte. Im Fall der IKB äußerte hernach sogar der Bundesrechnungshof Verwunderung, dass der damalige Bafin-Chef Jochen Sanio über die Jahre nichts zu beanstanden gehabt habe. Ein genaues Versagen der Finanzaufsicht darzulegen, lässt sich ohne Aktenkenntnis sehr schwer durchführen. Ich bin jedoch der Auffassung, dass nach den Berichten der Financial Times die Bafin sofort von ihren Prüfungsrechten Gebrauch hätte machen müssen.

Die BaFin hat am 18. Februar 2019 eine Allgemeinverfügung erlassen, wonach es verboten war, neue Netto-Leerverkaufspositionen in Aktien der Wirecard AG zu begründen oder bestehende Netto-Leerverkaufspositionen zu erhöhen. Erstmals in der Geschichte wurde ein solches Verbot für eine einzelne Aktie verhängt. Wie erklären Sie diesen ungewöhnlichen Schritt?

Dirk Domrich: Die Verfügung beruht auf Artikel 20 Verordnung (VO) Nr. 236/2012 (EU-LeerverkaufsVO). Gemäß Artikel 32 EU-LeerverkaufsVO i.V.m. § 53 Absatz 1 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) kann die Bafin als für Leerverkaufsregulierung in Deutschland zuständige Behörde nach Artikel 20 EU-LeerverkaufsVO Maßnahmen ergreifen, wenn ungünstige Ereignisse oder Entwicklungen eingetreten sind, die eine ernstzunehmende Bedrohung für die Finanzstabilität oder das Marktvertrauen in Deutschland oder in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten darstellen und die Maßnahme erforderlich ist, um der Bedrohung zu begegnen, und die Effizienz der Finanzmärkte im Vergleich zum Nutzen der Maßnahme nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt wird.

Die Allgemeinverfügung der BaFin galt bis zum 18. April 2019, 24 Uhr. Sie ist mit Ablauf dieses Zeitpunkts ausgelaufen.

Es wäre unseriös über die genauen Beweggründe der Bafin zu spekulieren. Die BaFin hat eine Untersuchung wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbot der Marktmanipulation nach Artikel 15 MAR (Market Abuse Regulation, Marktmissbrauchsverordnung) eröffnet. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden die der BaFin vorliegenden Hinweise und Informationen ausgewertet. Weiter wurden zur Aufklärung des Sachverhalts Auskunfts- und Vorlageersuchen erlassen.

Darüber hinaus werden im Rahmen der Marktbeobachtung regelmäßig die Nettoleerverkaufspositionen, die nach den Vorgaben der Artikel 5ff. EU-LeerverkaufsVO zu melden und ggf. zu veröffentlichen sind, überwacht. Der deutliche Anstieg der Netto-Leerverkaufspositionen in Wirecard ab dem 1. Februar 2019, der sich ab dem 7. Februar 2019 nochmal deutlich verstärkte, führte dann im Zusammenspiel mit der Verunsicherung der Kapitalmärkte zu dem Erlass der Allgemeinverfügung zum Erlass der Leerverkaufsmaßnahme.

Mitarbeiter der BaFin haben in großem Stil mit Wirecard-Aktien gezockt. Ist das legal? 

Dirk Domrich: In den Monaten vor der Insolvenz des Zahlungsdienstleisters und Dax-30-Wertes handelten Beschäftigte der deutschen Finanzaufsicht Bafin mehr mit Wirecard-Papieren als zu früheren Zeiten. Im ersten Halbjahr 2020 entfielen 2,4 Prozent aller gemeldeten privaten Finanzgeschäfte von Bafin-Mitarbeitern auf Geschäfte mit Wirecard-Aktien oder -Aktienderivaten. Die Zunahme des Handels mit Wirecard-Papieren habe die Bafin mit den höheren Schwankungen des Aktienkurses durch die Medienberichterstattung und die Ad-hoc-Meldungen des Unternehmens erklärt, hieß es in der Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Grünen. Die verstärkten Wirecard-Aktiengeschäfte der Bafin-Mitarbeiter seien im Vergleich zu anderen Dax-Werten, bei denen die Volatilität gestiegen sei, „nicht ungewöhnlich beziehungsweise nicht auffällig“. Ich gehe mangels konkreter Anhaltspunkte auch nicht davon aus, dass hier Insiderwissen als Grundlage für die Geschäfte dienten.

Die Staatsanwaltschaften haben nach Veröffentlichungen der Financial Times nicht gegen Wirecard-Verantwortliche, sondern die Journalisten ermittelt – ein ungewöhnlicher Schritt. Kann man von Behördenversagen sprechen? 

Dirk Domrich: Die Staatsanwaltschaft München I hat das Ermittlungsverfahren gegen die beiden Journalisten der Financial Times eingestellt. Anhaltspunkte für ein Behördenversagen ergeben sich insoweit nicht einmal im Ansatz

Wie wirkt sich der Wirecard-Skandal auf das Ansehen des Finanzplatz Deutschland aus?

Dirk Domrich: Gerade in Zeiten von nahezu Nullzinsen oder sogar Negativzinsen und dem Umstand, dass viele „Fachleute“ immer wieder den Bürgern den Vorwurf machen, dass die Aktienkultur in Deutschland zu gering ausgeprägt sei, führt dies zu einer großen Verunsicherung auf Seiten von Kleinanlegern. Dieser Reputationsschaden des Finanzmarktes ist nicht zu unterschätzen. Auch die Deutsche Bank und die Commerzbank AG werden erhebliche Forderungen abschreiben dürfen.

Das ganze deutsche Finanzsystem hat sich blamiert. Die Aufseher haben versagt, die Ratingagenturen, die Wirtschaftsprüfer, die Banken und Fondsgesellschaften, welche Milliarden an Privatanlegergeldern verbrannt haben, ohne nachzufragen.

Herr Domrich, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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