Wie Coaching Tiefe gewinnt und Organisationen verändert

Interview mit Simona Manoiu
Simona Manoiu beschreibt, wie sich Persönlichkeitsentwicklung vertieft, welche Verantwortung Coaches heute tragen und welche Rolle KI künftig spielt.

Welche aktuellen Trends und Entwicklungen beobachten Sie im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung, und wie beeinflussen diese den Coaching-Markt?
Wir beobachten heute eine deutliche Verschiebung weg von oberflächlicher Leistungssteigerung hin zu einer psychologisch fundierten Persönlichkeitsentwicklung, die Identität, Nervensystem und Beziehungsmuster integriert. Drei Entwicklungen prägen den Markt:

  1. Neuropsychologie & Körperintelligenz:
    Klient:innen wollen verstehen, warum sie reagieren, wie sie reagieren. Themen wie Stresssystem, Trauma, Bindung und Emotionsregulation werden zum Fundament persönlicher Reife. Persönlichkeitsentwicklung bedeutet damit weniger Selbstoptimierung und mehr innere Integration.

  2. Integrale Modelle statt isolierter Tools:
    Professionelles Coaching verbindet heute Systemtheorie, somatische Verfahren, Kognitionspsychologie und achtsamkeitsbasierte Ansätze. Menschen suchen nicht den nächsten Trick, sondern tiefe, erklärbare Entwicklungslogiken, die sich im Alltag bewähren.

  3. Persönlichkeitsentwicklung als Organisationsfaktor:
    Unternehmen erkennen: Persönlichkeitsreife ist ein zentraler Zukunftsindikator. Selbstführung, Konfliktfähigkeit und emotionale Präsenz unterscheiden Teams, die in unsicheren Zeiten stabil bleiben, von jenen, die zerfallen. Coaching wird damit strategischer Bestandteil organisationaler Resilienz.

Inwiefern stellen die zunehmende Digitalisierung und der wachsende Online-Coaching-Bereich Herausforderungen für traditionelle Coaching-Methoden dar?
Digitalisierung verändert nicht, ob wir coachen – sondern wie bewusst wir coachen müssen.

  1. Gefahr der Verflachung:
    Quick-Fix-Formate und emergente „Coaching-Apps“ fördern die Illusion schneller Lösungen. Ohne psychologische Fundierung entsteht ein Markt, der viel verspricht, aber wenig transformiert.

  2. Beziehung im digitalen Raum:
    Online-Coaching erfordert präzise Führung: bewusste Präsenz, klare Rahmung, Umgang mit Pausen und Resonanz. Gute Coaches navigieren diese Feinheiten – weniger erfahrene verlieren an Tiefe.

  3. Komplexere Fälle, höhere Verantwortung:
    Viele Klient:innen bringen Themen mit, die an therapeutische Tiefe grenzen. Digitalisierung senkt Einstiegshürden, gleichzeitig steigt die Verantwortung für saubere Grenzziehung und Ethik.

Neben Risiken entstehen Chancen: multimodale Begleitung, niedrigschwelliger Zugang, neue Lernarchitekturen. Es ist die Haltung des Coaches, nicht das Medium, die über Qualität entscheidet.

Können Sie aus Ihrer eigenen Coaching-Praxis ein Beispiel nennen, das verdeutlicht, wie Persönlichkeitsentwicklung das Leben eines Klienten nachhaltig verändert hat?
Ein leitender Angestellter kam zu mir mit Erschöpfung, geringem Selbstwert und dem Gefühl, im Unternehmen „übersehen“ zu werden. Sichtbar wurde: Er lebte unbewusst ein altes Skript – der „Starke, der alles trägt“, ohne je Bedürfnisse zu äußern.

Wir arbeiteten auf drei Ebenen:

  1. Biografie: Die Rolle des Funktionierenden entstand aus Kindheitsdynamiken.

  2. Emotionale Integration: Er lernte, Wut, Angst und Traurigkeit im Körper wahrzunehmen, statt sie zu verdrängen.

  3. Identität & Führung: Wir entwickelten ein neues Selbstbild, das Grenzen, Klarheit und Beziehungsfähigkeit integriert.

Warum diese Arbeit nachhaltig war:
Er veränderte nicht nur sein Verhalten – er veränderte seine innere Bezugslogik. Plötzlich führten Gespräche zu Ergebnissen, Konflikte lösten sich, sein Team reagierte mit Vertrauen, und auch privat entstand wieder Nähe, ohne Überanpassung.

Wie sehen Sie die zukünftige Rolle von künstlicher Intelligenz im Coaching, insbesondere im Hinblick auf individuelle Persönlichkeitsentwicklung?
KI wird Coaching nicht ersetzen, aber die Art und Tiefe von Entwicklung fundamental erweitern. Entscheidend ist: KI ist kein Coach. KI ist ein Instrument. Die Wirksamkeit hängt vom Bewusstseinsgrad des Menschen ab, der sie nutzt.

Ich sehe drei zentrale Entwicklungen:

  1. KI als reflexive Entwicklungsarchitektur:
    KI kann Muster sichtbar machen, Fragen stellen, Denk- und Schreibprozesse begleiten. Sie strukturiert – aber sie führt nicht.

  2. KI als kognitives Assistenzsystem für Coaches:
    KI erkennt Wiederholungen, Inkonsistenzen, Themencluster. Nicht als Diagnostik – sondern als analytische Unterstützung, die Coaches präziser arbeiten lässt. Der Mensch bleibt der Resonanzkörper.

  3. KI als Demokratisierungsfaktor:
    Menschen erhalten Zugang zu personalisierten Reflexionsprozessen. Je größer die Zugänglichkeit, desto wichtiger wird ethische Kompetenz, damit KI nicht Selbstoptimierungsdruck oder alte Muster verstärkt.

Zukunftsfähiges Coaching basiert auf einer Triade: menschliche Tiefe, psychologisches Verständnis, bewusster KI-Einsatz.

In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Selbstoptimierung immer mehr in den Fokus rückt, welche ethischen Überlegungen sollten Coaches im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung berücksichtigen?
Der zentrale ethische Auftrag lautet: Coaching darf kein Verstärker neoliberaler Selbstoptimierungsnarrative sein.

Wesentliche Leitlinien:

  1. Entlastung statt Optimierungsdruck

  2. Saubere Grenzziehung

  3. Autonomie & Selbstwirksamkeit stärken

  4. Macht reflektieren

  5. Systemische Kontexte ernst nehmen

Die Aufgabe von Coaching ist nicht, Menschen „besser zu machen“, sondern ihnen Zugang zu einem ehrlicheren, lebendigeren und freieren Selbst zu ermöglichen.

Interview teilen: 

Facebook
Twitter
LinkedIn
WhatsApp
No related posts found for the provided ACF field.

Zum Expertenprofil von Simona Manoiu

Simona Manoiu

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter diesem Link:

Weitere Interviews

die neusten BTK Videos