Verena Vogt: Die Antragsverfahren sind zu bürokratisch und dauern zu lange

Interview mit Verena Vogt
Verena Vogt, Fachanwältin für Insolvenzrecht und Insolvenzverwalterin ist Partnerin der bundesweit tätigen Rechtsanwälte Schumacher & Partner PartGmbB. Am Hamburger Standort bündelt sie für die Kanzlei bundesweit die insolvenzrechtliche Kompetenz als Team-InsO. Mit ihr sprechen wir über den Einbruch der deutschen Wirtschaft, Insolvenzwelle sowie besonders betroffene Branchen.

Die deutsche Wirtschaft ist im letzten Jahr um 5% eingebrochen. Gleichzeitig wurden großzügige finanzielle Hilfen vom Staat gewährt. Wie bewerten Sie die aktuelle wirtschaftliche Situation im Mittelstand?

Verena Vogt: Mir wird insbesondere aus dem Mittelstand berichtet, dass die finanziellen Hilfen entweder bislang überhaupt nicht oder mit großer Verzögerung ankommen. Die Antragsverfahren sind zu bürokratisch und dauern zu lange. Hierdurch sind die zum Teil über Jahre gebildeten Rücklagen nahezu aufgebraucht.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Dezemberhilfen nur dann gewährt werden, wenn das Unternehmen bereits im November 2020 von bundesweit geltenden Schließungen betroffen war. Dies ist besonders für den Einzelhandel, dem durch die Schließung im Dezember 2020 das Weihnachtsgeschäft weggebrochen ist, höchst problematisch.

In den Medien geistert die Angst vor einer Insolvenzwelle. Zu Recht?

Verena Vogt: Zu Beginn des ersten Lockdowns im Frühling 2020 war zunächst damit zu rechnen, dass ich als Insolvenzverwalterin bald ziemlich viel zu tun hätte. Wie wir heute wissen, war genau das Gegenteil der Fall. Nach den aktuell durch das Statistische Bundesamt veröffentlichten Zahlen gab es bis Oktober 2020 31,9% weniger Unternehmensinsolvenzen als im selben Vorjahreszeitraum.

Ob nun in diesem Jahr eine Welle von Insolvenzverfahren kommen wird, lässt sich schwer vorhersagen und hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen von der weiteren Entwicklung der Pandemie und den damit einhergehenden Beschränkungen für Unternehmen. Zum anderen davon, ob und wie lange weitere finanzielle Hilfen vom Staat gewährt werden und wie diese Hilfen ankommen.

Grundsätzlich ist damit zu rechnen, dass zumindest zunächst eher kleinere Unternehmen vermehrt von Insolvenzen betroffen sein werden, da viele ihre Rücklagen nahezu aufgezehrt haben. Größere Unternehmen dürften die vergangenen Monate für eine Neuausrichtung genutzt haben, so dass sie weniger häufig insolvenzbedroht sind. Zudem besteht für diese seit Anfang des Jahres 2021 die Möglichkeit einer Sanierung ohne Insolvenzverfahren nach dem Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (kurz StaRUG). Wir haben in der Kanzlei an allen Standorten durch vermehrte Anfragen gemerkt, dass der Beratungsbedarf hierzu steigt.

Was mir in der Diskussion oft fehlt, ist die Benennung auch der positiven Aspekte von Insolvenzverfahren. Der Gang ins Insolvenzverfahren muss nicht zwangsläufig zur Schließung eines Unternehmens führen. Vielmehr bietet das Insolvenz(eröffnungs)verfahren zahlreiche Instrumente zur Unternehmensrettung. Zum Beispiel belasten die Löhne und Gehälter durch die Inanspruchnahme der Vorfinanzierung von Insolvenzgeld bis zu drei Monate lang nicht die Liquidität. Die Anpassung von Mietzinsen, die vorher durch den Vermieter abgelehnt wurde,  wird möglich, da im Insolvenzverfahren auch eigentlich noch langjährig laufende Mietverträge mit einem Sonderkündigungsrecht von drei Monaten gekündigt werden können.

Gerade für den Mittelstand, in dem viele Einzelunternehmer tätig sind, bietet ein Insolvenzverfahren zudem die Möglichkeit, nach drei Jahren die sogenannte Restschuldbefreiung zu erlangen.  Die vor Inkrafttreten des Gesetzes zur weiteren Verkürzung der Restschuldbefreiung Anfang des Jahres (mit Rückwirkung zum 01. Oktober 2020) grundsätzlich für eine Schuldenfreiheit zu durchlaufenden sechs Jahre wurden auf drei Jahre verkürzt. Was viele nicht wissen ist, dass eine Fortführung des Geschäftsbetriebs auch während eines Insolvenzverfahrens möglich ist und nicht zwangsläufig eine Geschäftsschließung erfolgen muss.

Welche Branchen sind besonders betroffen?

Verena Vogt: Im Grunde genommen alle. Besonders betroffen sind aber natürlich die Branchen, die auch der Lockdown am meisten betrifft. Also die gesamte Tourismusbranche, Gastronomie- und Hoteleriebetriebe, der Einzelhandel sowie Dienstleister wie Friseure und Kosmetikstudios. Aber über die Beratung merken wir, dass nahezu in allen Branchen erhebliche Probleme bestehen.

Die Pflicht zur Insolvenzanmeldung wurde temporär ausgesetzt und Ende 2020 wieder in Kraft gesetzt. Wie stark wurde diese Regelung in Anspruch genommen?

Verena Vogt: Dies ist so nicht ganz richtig. Insolvenzantragsgründe sind Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Die generelle Aussetzung der Antragspflicht für beide Insolvenzantragsgründe lief am 30. September 2020 aus. Für den Insolvenzantragsgrund der Überschuldung wurde die Aussetzung der Antragspflicht zunächst bis zum 31. Dezember 2020 verlängert. Lag jedoch Zahlungsunfähigkeit vor, war die Insolvenzantragspflicht also schon ab dem 01. Oktober 2020 nicht mehr ausgesetzt. Die Antragspflicht bei Überschuldung wurde nunmehr weiter bis zum 31. Januar 2021 für diejenigen Unternehmen ausgesetzt, die im Zeitraum vom 01. November 2020 bis 31. Dezember 2020 einen Antrag auf Gewährung finanzieller Hilfeleistungen im Rahmen staatlicher Hilfsprogramme gestellt haben oder hätten stellen können. Für alle anderen Unternehmen gilt wieder die uneingeschränkte Insolvenzantragspflicht.

Wie der Rückgang der Unternehmensinsolvenzen im Vorjahresvergleich von 31,9% zeigt, hat auch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht offensichtlich zu deutlich weniger Unternehmensinsolvenzanträgen geführt. Ob sich die Geschäftsleiter tatsächlich auf die Aussetzung berufen können, wird die Zukunft zeigen. Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht erfolgte nämlich nicht pauschal, sondern nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen. So gilt die Aussetzung nicht, wenn die Insolvenzreife nicht auf den Folgen der Ausbreitung der Pandemie beruht oder wenn keine Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen.

Bereits vor Aussetzung der Insolvenzantragspflicht haben Insolvenzverwalter in jedem Insolvenzverfahren geprüft, ob der Insolvenzantrag rechtzeitig gestellt wurde und ob Haftungsansprüche gegen die Geschäftsleiter bestehen. Die Haftung umfasst nicht selten das Volumen mehrerer Jahresumsätze. Es ist zu erwarten, dass sich die Haftungsinanspruchnahme mit Anstieg der Insolvenzverfahren deutlich erhöhen wird und nicht selten vor den Zivilgerichten zu klären sein wird. Geschäftsleiter sahen sich zudem bereits vor der Aussetzung der Antragspflicht häufig strafrechtlichen Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts einer Insolvenzverschleppung ausgesetzt. Auch diesbezüglich ist eine Zunahme der Ermittlungsverfahren aufgrund der komplizierten Regelungen zur Aussetzung zu erwarten.

Spüren Sie derzeit im Alltag einen erhöhten Beratungsbedarf?

Verena Vogt: Auf jeden Fall. Alleine die besprochene Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und die damit verbundene Unsicherheit hinsichtlich drohender Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken haben zu einer großen Verunsicherung von Geschäftsleitern und damit zu erhöhten Beratungsbedarf geführt.

In letzter Zeit sind zudem wieder mehr Gläubigeranträge durch institutionelle Gläubiger, also Finanzämter und Krankenkassen, zu verzeichnen. In der Zeit zwischen dem 28. März 2020 und dem 28. Juni 2020 waren Gläubigeranträge nur beschränkt möglich. Diese Einschränkungen gelten nun nicht mehr. Die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge werden häufig, wenn es finanziell im Unternehmen eng wird, nicht mehr bezahlt, da aus Sicht der Geschäftsleiter von diesen keine unmittelbar spürbare Gegenleistung, wie von Lieferanten oder Stromversorgern, erbracht wird. Was Geschäftsleiter häufig nicht wissen, ist, dass institutionelle Gläubiger sich, im Gegensatz zu anderen Gläubigern, selber, ohne dass es eines zivilgerichtlichen Urteils bedarf (was mehrere Monate, wenn nicht Jahre dauern kann) einen Titel schaffen und die Vollstreckung einleiten können. Wenn ein Gläubigerantrag vorliegt, ist schnelles Handeln gefragt, um die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit nicht vollständig zu verlieren. Denn häufig erfolgt die Sperrung aller Bankkonten, Außenstände bei Drittschuldnern werden eingefroren, was zum zumindest zum temporären Verlust jeglicher Liquidität führt.

Mit dem neuen Restrukturierungsrahmen StaRUG soll Unternehmen die Möglichkeit zur Sanierung vor einer Insolvenz erleichtert werden. Welche sind im Alltag die wichtigsten Änderungen?

Verena Vogt: Das StaRUG bietet für Unternehmen eine weitere Sanierungsoption zum Erhalt des Unternehmens. Es ist verbunden mit der Hoffnung, dass nunmehr zeitlich deutlich früher Sanierungen mithilfe des StaRUG eingeleitet werden, als dies bislang bei Insolvenzverfahren der Fall war. Nach wie vor ist der Gang in ein Insolvenzverfahren mit dem Stigma des Scheiterns verbunden, weshalb schlimmstenfalls so lange gewartet wird, bis nichts mehr zu retten ist. Bei der Sanierung durch StaRUG soll die Durchführung eines förmlichen Insolvenzverfahrens vermieden werden. Wie bereits mit der vor einiger Zeit eingeführten Möglichkeit der Eigenverwaltung sollen die Geschäftsleiter die Handelnden bleiben. Hierdurch wird der im Insolvenzverfahren durch die Einsetzung eines Insolvenzverwalters in einigen Fällen einhergehende Kontrollverlust vermieden, der Geschäftsleiter häufig vor dem Gang ins Insolvenzverfahren abschreckt.

Funktionieren die neuen Regelungen im Alltag?

Verena Vogt: Um hierzu eine Aussage treffen zu können, ist es noch zu früh, da das StaRUG erst am 01. Januar 2021 in Kraft getreten ist. Die Hoffnung ist allerdings groß, dass zukünftig mehr Unternehmen durch frühe Einleitung der Sanierung gerettet werden können.

Frau Vogt, vielen Dank für das Gespräch!

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