Was bedeutet „nachhaltig“ beim Bauen überhaupt?
Harald Semke: Nachhaltiges Handeln bedeutet allgemein, sich auf besonders langfristige Wirkungen hin auszurichten. Genauso ist es auch beim Nachhaltigen Bauen. Wegen der langen Lebensdauer eines Gebäudes sind dessen Auswirkungen hinsichtlich des relevanten Energie- und Ressourcenaufwandes und der darin liegenden, z.B. klimaschädigenden Emissionswirkungen, im gesamten Lebenszyklus des Gebäudes sehr hoch. In Zahlen ausgedrückt sind ca. 40 bis 50 % der klimaschädlichen Treibhausgase als inländisch relevantes CO2-Äquivalent allein durch den Gebäudebereich insgesamt verursacht, ca. 54, 7 % des gesamten Abfallaufkommens in Deutschland sind weiterhin allein durch Bauabfälle verursacht, die weltweite Zementproduktion erzeugt beispielsweise rund dreifache CO2- Emission als wie es der weltweite Flugverkehr verursacht. Der Begriff Nachhaltigkeit kommt bekannterweise aus der Forstwirtschaft, wo aufgrund des langsamen Wachstums eines Baumes, notwendig langfristig zu planen ist. Der dort erstmals im 16. Jahrhundert verwendete Begriff der Nachhaltigkeit meinte, dass einem Wald nur so viel Holz entnommen wird, wie auch permanent nachwächst. Der erstmals schriftlich verwendete Nachhaltigkeitsbegriff, welcher existenzsicherndes und ressourcenschonendes Handeln beschrieb, begleitet die Menschheit inhaltlich jedoch schon deutlich länger. Als generelle lebens- und kulturerhaltende Maßgabe für Natur und alle davon abhängigen Lebewesen, findet sich dieses Grundprinzip eines ressourcenschonenden Handelns schon zuvor in zahlreichen Kulturen der Geschichte, bis hin zu den wichtigsten Regeln indigener Völker. Ähnlich langfristige Wirkungen wie sie ressourcenerhaltend z.B. in der Forstwirtschaft bis heute relevant sind, werden auch im Nachhaltigen Bauen berücksichtigt. Folgerichtig als notwenige Antwort und Gegenbewegung, im Ausgleich zu einer langjährig ressourcenverschwendenden Konsum- und Wegwerfgesellschaft, werden im Nachhaltigen Bauen, Stoffe und Systeme nach ressourcenerhaltenden und nach umwelt- und generationengerechten Kriterien innerhalb der tatsächlichen Lebenszyklen bewertet und ausgewählt. Eine angenommene Lebenszeit eines Gebäudes von z.B. 80 – 100 Jahren, lässt eine entsprechende rechnerische Bewertung der Nachhaltigkeit eines Gebäudes nach den jeweils relevanten Einflussgrößen zu. Die Auswirkung der baulichen Tätigkeit auf Menschen, Tiere, Natur und Umwelt wird somit rechnerisch erfassbar und z.B. benötigte Ziele für CO2 neutrales Bauen dadurch plan- und überprüfbar. Neben anderen wichtigen Größen zur Bewertung der Nachhaltigkeit baulicher Tätigkeiten, sind hier derzeit besonders die klimaschädigende oder sogar teilweise bereits klimapositive Wirkung der baulichen Maßnahmen relevant. Ressourcenerhalt und abfallfreie Wiederverwertbarkeit sowie regenerativer und nicht regenerativer Energieaufwand der Gesamtlösung sind derzeit ebenfalls sehr relevante Qualitätsmerkmale zur qualitativen Bewertung im nachhaltigen Bauen. Das älteste durchgehend bewohnte Fachwerkhaus Deutschlands, Heugasse 3 in Esslingen ist ca. 750 Jahre alt und macht deutlich, wie nachhaltig Gebäude werden können, wenn die in ihnen baulich einmal gebundenen Ressourcen und Energien sowie damit verbundene Emissionen, nicht nach kurzer Lebenszeit durch Entsorgung wieder vernichtet werden. Dadurch wird weiterhin deutlich, wie sehr auch Suffizienz, Umnutzung, Umbau und Altbausanierung, ebenfalls sehr starken Einfluss auf die Nachhaltigkeit im gesamten Baubereich bewirken. Einmal baulich aufgewendete Ressourcen werden im Lebenszyklus der Gebäude, bausubstanzschonend relevant erhalten und bis zum vielfachen heute üblicher Lebenslängen eines Gebäudes, in ihren positiven Auswirkungen wie z.B. CO2 Bindung verlängert. Außerdem wird Baukultur erhalten und wertig umgestaltet. Flächenverbrauch für Neubauten wird relevant eingespart und Diversität bestehender Grünflächen, Biotope und Naturflächen, nicht durch Baumaßnahmen verbraucht. Hierzu benötigte Ressourcen fallen entsprechend deutlich reduzierter aus und können ohnehin ebenfalls klimaneutral oder klimapositiv ausgewählt werden. Nachhaltiges Bauen lernt insoweit auch aus der Baugeschichte, z.B. indem Vorteile historischen Fachwerks mit neuen und zeitgemäßen Mitteln und Methoden, in nachhaltige innovative Lösungen übertragen und weiterentwickelt werden. Nachteile der heute noch weitestgehend verwendeten konventionellen baulichen Lösungen, können so klimaschutzbedingt und ressourcenbedingt schnellstmöglich substituiert werden.
Wie wichtig ist Nachhaltigkeit beim Bauen, was sind die allgemeinen Vorteile?
Harald Semke: Die derzeit nach allgemeiner Expertenansicht relevanteste Frage im Bauen ist klimaschutzbedingt die Verbesserung der Nachhaltigkeit im Gebäudebereich. Der konservative Bausektor ist hier leider noch das Schlusslicht der längst überfälligen allgemeinen Nachhaltigkeitsentwicklung und übt sich leider eher im verkaufsorientierten inflationären Verwenden des Begriffes in Buntdrucken, statt von Ausnahmen abgesehen, ernsthafte Bemühungen zu bewerkstelligen. Ähnlich wie zuvor bei der von vielen Experten als gescheitert bewerteten Energiewende, wird erneut die dringend überfällige Entwicklung massiv behindert. Die aktuell mit höchster Relevanz zu befördernde Nachhaltigkeit im Gebäudesektor, droht aufgrund vielfach mangelnder Expertise bereits teilweise zum inhaltsleeren und nur tendenziös verwendeten Marketingmodewort zu geraten. Auch Gesetzgebung und Förderpolitik berücksichtigen bis heute diese höchste Relevanz im Bausektor, leider noch gar nicht. Dabei gibt es tatsächlich nur Vorteile des Nachhaltigen Bauens, welche Gesellschaft und Baubranche sehr dringend zum Schutz aller Lebensräume und Ressourcen, nicht zuletzt auch zur eigenen Existenzerhaltung, insbesondere auch klimaschutzbedingt, nun schnellstmöglich in der Breite einleiten müssen. Einige der wichtigsten Vorteile sind folgende:
– Klimaneutral oder klimapositiv Bauen ist die nachhaltige Antwort auf die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels wie sie sich durch Waldsterben, Flutkatastrohen, Waldbrände, Trockenheit, Wassermangel, Verlust von Lebensräumen für Mensch und Tier sowie Diversitätsverlust in der Natur, Gletscher-, Polschmelze, und globaler Wetterveränderungen zunehmend bedrohlich bemerkbar machen.
– Planung und Realisierung klimaneutraler oder klimapositiver Bauten ohne, bzw. ohne nennenswerte Mehrkosten. Die an Stelle aller seit 1993 international angestrebten Bemühungen zur Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase sich dennoch mehr als verdoppelte Emission weltweit und die weiterhin z.B. national fehlenden gesetzgeberischen Maßnahmen hierzu, machen einen enormen nationalen wie internationalen Bedarf für zukünftige Reduktion dieser Emissionen erkennbar, welcher hohe Kosten zur Folge haben wird. Ein wesentlicher Vorteil des CO2-neutralen oder CO2-positiven Bauens ist nun, dass er unter Verwendung eines holzsparenden Holzbaus und ausreichend nachhaltiger Forstwirtschaft sowie Verwendung schnell nachwachsender und/oder Recyclingbaustoffe, substitutionskostenfrei so hohe Bauqualität erreichen lässt, wie sie heute für allgemeinen Komfort gewünscht wird.
– Neben Erhalt der Ressourcen und Schutz von Wald, Um- und Mitwelt, bietet die regenerative Energieerzeugung als nachhaltige Nutzung von Umweltwärme durch Wärmepumpen, welche solar betrieben werden oder solare Wasserstofferzeugung, speicherfähige dezentrale Systeme, welche CO2 relevante Verbrennung zukünftig überflüssig machen und benötigte Sektorenkopplung weiterhin befördern.
– Nachhaltige Holzwirtschaft liefert ressourcenschonend hochwertige langsam nachwachsende, holzsparende Holzkonstruktionen, welche klimapositiv als langfristige und wiederverwertbare Baustoffe dienen, während der volumenmäßig größte Anteil der Baukonstruktionen, aus schnell nachwachsenden oder Recyclingbaustoffen klimapositiv bestehen. Mehr als die Hälfte der deutschen Holzernte geht derzeit noch in die Konkurrenznutzung thermischer Verwertung, wodurch dann sogar mehr CO2 freigesetzt wird, als wenn z.B. Kohle verbrennt. Holz in langlebiger Konstruktion hingegen, setzt hingegen kein CO2 frei, sondern verlängert die derzeit absolut wichtige CO2- Bindung in Gebäuden nachhaltig.
– Nachhaltiges Bauen schützt bei sachgerechter Konzeption ressourcenschonend Wälder und Klima durch holzsparenden Holzbau und verlängert wie benötigt die CO2 Bindung in die Zukunft, durch langlebige klimapositive Baukonstruktionen. Thermische Holzverwertung sollte aufgrund ihrer klimaschädigenden Wirkung hingegen, nicht mehr als nachhaltig bezeichnet werden und die Holzwirtschaft klimabedingt wieder waldschonender ihrem ressourcenschonenden Nachhaltigkeitsansatz suffizienter entsprechen, damit der Wald das drastisch gestiegene CO2 anteilig ausreichend binden kann.
– Genannte Vorteile entstehen gleichermaßen für Neubau, Sanierung und Umbau, durch die leichten Flächengewichte jedoch auch besonders für Aufstockungen, Verbindungs- und Anbauten, flexible-, oder/und temporäre Bauten, zudem ohne Baufeuchte bei mindestens Bauzeithalbierung und weiterhin vorteilhaft störungsfreierem Baubetrieb im heute weitestgehend erforderlichen Bauen im Bestand
– Nachhaltige Gebäude sind aufgrund ihrer intelligenteren Konzeption immer wirtschaftlicher als konventionelle Gebäude ohne relevante Investitionskostensteigerung. Auch eingeplante Flexibilität, Umnutzbarkeit und insbesondere auch anteilige Suffizienz mit Ersparung von baulichen Ressourcenaufwendungen zugunsten besserer Angemessenheit wie z.B. städtebaulich nachverdichtende, nachnutzende, flächensparende Lösungen, multifunktionale Mehrfachnutzungen wie z.B. Mobiles Arbeiten, Desktop- Sharing, Co- Working, etc., entlasten ebenfalls nicht nur die Umwelt, sondern stellen den Beginn einer neuen nachhaltige Arbeitswelt dar. Zukunftsgerecht, wirtschaftlich und zudem Aufenthaltsqualität und Arbeitsatmosphäre verbessernd bieten nachhaltig konzipierte Gebäude zahlreiche Mehrwerte. Suffizient eingesparte Flächen ermöglichen weiterhin größere Flächen mit sozialen Aufgaben wie Begegnung, Austausch, Pausen und multifunktionale Meeting Flächen. Zuletzt erhielten Lösungen dieser Art weitere pandemiebedingte Starthilfe, welche z.B. auch strenge Nutzungstrennungen von Gebäuden, zu größerer Flexibilität und Vielfalt, zusammen mit digitalen Entwicklungen beförderten und weiter befördern, welche insgesamt Gebäude nachhaltig zukunftsfähiger machen.
Seit ca. 12 Jahren planen wir im pape oder semke ARCHITEKTURBÜRO nahezu ausschließlich relevante Gebäude, welche mehr Energie erzeugen als Sie verbrauchen und z.B. aufgrund Ihrer oben beschriebenen, holzsparenden Holzbauweise, effektiv nachhaltig nicht nur im Betrieb, sondern auch in der Konstruktion sich CO2-neutral, klimapositiv herstellen lassen. Der gewonnene Wissenstransfer aus unseren Bau- und Forschungsvorhaben wird vielfältig in Vorhaben unterschiedlichster Bauaufgaben sowie in Beratung für Kommunen, Städte und Länder eingebracht.
Geht es beim nachhaltigen Bauen nur um den Umweltaspekt, oder gibt es andere Kriterien?
Harald Semke: Soziale, wirtschaftliche und generationengerechte Kriterien sind neben der bereits beschriebenen Langlebigkeit sowie der aktuell besonders relevanten Umweltaspekte z. B. für den Klimaschutz, weitere wichtige Kriterien eines nachhaltigen Bauens. Als partizipative Planer erreichen wir regelmäßig sehr hohe Nutzerzufriedenheit in den Gebäuden, weil die Gebäudenutzer am Entstehungsprozess beteiligt werden. Hohe Akzeptanz von Gebäuden entsteht jedoch auch durch viele weitere Faktoren wie z.B. Luftqualität, Tageslichtqualität, akustische Qualität und nicht zuletzt ist es eine gestalterische Angemessenheit und Ästhetik eines Gebäudes, welche es neben den technischen Qualitäten langlebig und damit nachhaltig macht. Diese soziokulturellen Kriterien synergieren direkt mit den wirtschaftlichen, da langlebige und akzeptierte Gebäude mit einer guten thermischen Qualität und wirkungsvoller Low- Tec Haustechnik im Lebenszyklus erheblich wirtschaftlicher sind, als konventionelle Gebäude. Mit hoher Komfortqualität und drastischer Senkung aller Baufolgekosten, stellen nachhaltige Gebäude zukunftsoffen und flexibel, nicht nur einen Quantensprung im Bauen dar, der lange überfällig war, sie sind bei guter und effektiver, integraler und interdisziplinärer Gestaltungsqualität, auch generationsgerechte Ressourcenlager, auch für zukünftige Baumaßnahmen. Hierzu ist wichtig, Nachnutzungen, Umnutzungen, bis hin zu Materialtrennbarkeit für Um- und Rückbau, zur direkten Widerverwertbarkeit der Baustoffe, zerstörungsfrei trennbar vorzuplanen und zu fertigen.
Bei Gewerbeimmobilien, so heißt es, wird noch nicht umfassend auf Nachhaltigkeit geachtet. Was hat der Markt vor?
Harald Semke: Leider wird noch immer im gesamten Bereich des Bauens eine echte Nachhaltigkeit, wie sie sogar wirtschaftlicher, generationengerechter, problemlos sofort klimaneutral möglich wäre, kaum beachtet. Bei Gewerbeimmobilien ist zudem seit Jahrzenten das bekannte Problem der vergleichsweise sehr kurzen Betrachtungszeiträume ein weiterer Hinderungsgrund für verbesserte Nachhaltigkeit. Innovative Firmen durchbrechen das jedoch bereits und so entstehen auch hier bereits nachhaltigere Bauweisen, welche dann auch Bestandteil klimapositiver Firmenkonzepte werden und dadurch relevante Wettbewerbsvorteile und Imagevorteile verschaffen. Mehr Gewichtung von ökologischen Fußabdrücken im Wettbewerb und auch bei der Planung mitgedachte Nachnutzungskonzepte und Grundriss- Flexibilität, mehr vorgefertigte 2d und 3d Modulbauweisen, und nicht zuletzt das derzeit hier noch enorm unberücksichtigt belassene, auch wirtschaftliche Potential effektiver Nachhaltigkeit, lassen hoffen, dass zukünftig auch für Gewerbeimmobilien, der Markt seine Mitverantwortung zu weniger klimaschädlicher Gewerbeimmobilien erkennt, als das in diesem Bereich bislang noch der Fall ist. Allerdings ist gerade im Bereich messbarer und berechenbarer Nachhaltigkeit, im Bereich von Gewerbeimmobilien z.B. das DGNB-Siegel (Qualitätssiegel der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB)) erfreulicherweise bereits häufiger anzutreffen.
Welche Rolle nehmen Vermieter bei nachhaltigen Gebäuden ein? Welche Vorteile bietet die Vermietung nachhaltig errichteter Häuser?
Harald Semke: Vermieter haben die Möglichkeit, durch Bereitstellung nachhaltiger Wohnungen besonders zukunftssichere, langlebige und damit wertsichernde Wohnungen zu schaffen. Durch den verbesserten Komfort und die drastisch reduzierten Folgekosten, ergeben sich Vorteile für Vermieter und Mieter. Generationengerechte, klimapositive Gebäude haben eine große Strahlkraft und ermöglichen zahlreiche, auch soziokulturelle Vorteile, welche Quartiere und Stadtteile aufwerten und zu verbesserten Bedingungen für Vermieter und Mieter führen. Die Erstellung nahezu substitutionskostenfreier, klimapositiver Mietobjekte ermöglicht zukunftssichere Vorhaben mit Mehrwert. Nach eingetretenem Ausgleich am Mietwohnungsmarkt werden dies die bevorzugten Mietobjekte sein, welche z.B. den Bewohnern den zunehmenden Wunsch nach klimaneutraler Wohnung ermöglichen.