Digitalisierung wandelt auch Unternehmenskultur – Dr. Robert Heene (Versicherungskammer)

Interview mit Dr. Robert Heene
Dr. Robert Heene verantwortet im Vorstand des Konzerns Versicherungskammer die Lebensversicherung und den Kunden- und Vertriebsservice. Der Konzern Versicherungskammer ist bundesweit der größte öffentliche Versicherer und siebtgrößten Erstversicherer in Deutschland. Im Interview spricht er über die Digitalisierung der Versicherungsbranche und die Kooperation zwischen Start-Ups und etablierten Marktteilnehmern.

Die Digitalisierung der Wirtschaft gilt als eines der wichtigsten Zukunftsthemen? Was sind die aktuellen Trends in der Versicherungsbranche?

Dr. Robert Heene: Wir leben in einer Welt, die sich durch den technischen Fortschritt und die Forschung stark und vor allem sehr schnell wandelt. Sie zwingt Wirtschaft und Unternehmen, zahlreiche Herausforderungen gleichzeitig zu bewältigen. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie zeigt uns, wie wichtig es ist, dass wir flexibel bleiben und uns rasch anpassen. Und sie hat die Digitalisierung und die mit ihr einhergehenden, veränderten Kundenbedürfnisse, maßgeblich beschleunigt. Für ein Unternehmen wie den Konzern Versicherungskammer ist dies Ansporn, die Investitions- und Innovationstätigkeit, einhergehend mit der Stärkung der digitalen Kompetenzen der Belegschaft, weiter zu forcieren.

Wie jede Branche erleben auch Versicherer, dass sich vor allem die Erwartungen der Kunden im digitalen Zeitalter stetig ändern. Sie wünschen sich mehr Individualisierung, und sie denken nicht in Produkten, sondern suchen Lösungen für ihre Bedürfnisse. Sie sind es gewohnt, auf jedwedem Kanal in Echtzeit zu kommunizieren und erwarten das nahezu gleichermaßen von ihrem Versicherer. Dieser entwickelt sich sukzessive vom „Schadensabwickler oder Kostenerstatter“ zum Lösungsanbieter, der die sich wandelnden Bedürfnisse seiner Kunden, etwa rund um Wohnen und Leben, Sicherheit, Mobilität und Gesundheit, abdeckt.

Wie weit ist die Branche schon „digitalisiert“?

Dr. Robert Heene: Digitalisierung unterstützt uns enorm, bei der Bearbeitung der Kundenanliegen individueller und mit höherer Qualität vorzugehen. Und da sind wir im Konzern Versicherungskammer schon sehr weit. Technologie ist für uns als Versicherer seit den ersten EDV-Tagen ein wichtiger Produktionsfaktor. Inzwischen liefert künstliche Intelligenz (KI) in Kombination mit Data Analytics Erkenntnisse, um die besten Lösungen zu finden. Ein Beispiel für KI aus unserem Haus ist die automatische Analyse von Texten, das sogenannte „Textmining“, das wir großflächig in der Bearbeitung des Schriftverkehrs einsetzen. Mithilfe der Technologie filtern wir Angebotswünsche und Unmutsäußerungen unserer Kunden aus ihren Schreiben und können somit zielgerichteter kommunizieren. Unsere eigenentwickelte „Statistische Analyse & Rechnungs-Steuerung“ (StARS), ein weiteres Beispiel, erkennt fehlerhaft gestellte Krankenhausrechnungen. Auch bei der Schadenregulierung kommen neue Technologien zum Einsatz. Dazu wurde 2019 ein leistungsfähiger KI-Prototyp zur Erkennung und Klassifizierung von Kfz-Schäden anhand von Fotos entwickelt. Und wir setzen Drohen für unterschiedlichste Analysen ein, da sie zuverlässig präzise und umfassende Daten, vor allem bei komplexen Groß- und Kumulschäden, liefern.

Unsere digitalen Angebote, wie die Online-Beratung mit virtuellem Vertragsabschluss oder die digitale Sprechstunde, erleichtern es uns, mit unseren Kunden unverändert auch bei Abstandsgebot in Kontakt zu bleiben.

Digitalisierung heißt aber auch, dass sich die Unternehmenskultur wandelt. Gewachsene Hierarchien brechen auf, Teams werden vielfältig und bunt gemischt und Mitarbeiter haben vielfältige Gestaltungskompetenzen. Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, kurz VUCA, fordern von unseren Mitarbeitern und vor allem auch vom Management, ein für viele neues und ungewohntes Entscheidungsverhalten – den Umgang mit der Ungewissheit. Es greifen neue, oft agile Zusammenarbeitsformen, neue Erwartungen bis hin zu kundenzentrierten Ökosystemen und der zunehmende Einsatz von KI in unsere langjährig erlernten Verhaltensmuster ein. Ein Weg, damit umzugehen, ist das arbeitsintegrierte Lernen. Die Pandemiesituation hat uns bestätigt, dass wir mit unseren Transformationsprogrammen bereits sehr gut aufgestellt sind: Unsere Belegschaft konnten wir innerhalb weniger Tage konzernweit auf mobiles Arbeiten umstellen und dabei unsere hohe Servicequalität ebenso beibehalten wie unsere Produktivität.

In welchen Bereichen sehen Sie noch Luft für große Innovationen und Effizienzsteigerungen?

Dr. Robert Heene: Anwendungen wie KI in Kombination mit Data Analytics werden in den kommenden Jahren noch stärker an Bedeutung gewinnen. Sie sind deshalb fester Bestandteil unserer Digitalisierungs-Strategie und damit unserer Arbeitsabläufe. Das bedeutet für uns, das Zusammenspiel von Mensch und digitalen Anwendungen weiter aufeinander abzustimmen. Als unser wichtigster Erfolgsfaktor sind unsere Beschäftigten diejenigen, die die technischen Neuerungen zum Nutzen unserer Kunden einsetzen. Damit ändern sich Job Descriptions ebenso wie die Anforderungen an das Know how und die Flexibilität jedes Einzelnen. Am Ende können wir diesen schnellen Change als Chance begreifen – er ermöglicht eine Digitalisierung des Kerngeschäfts, die Entstehung neuer Geschäftsmodelle und innovativer Ökosysteme und erleichtert es auf vielfältige und zugleich individuelle Weisen auf Kunden einzugehen.

Ist die wachsende Insurtech-Szene eine Gefahr für traditionelle Versicherungsunternehmen?

Dr. Robert Heene: Durch unser Engagement im Start-up-Umfeld und als Mitgründer des InsurTech Hub Munich (ITHM) sehen wir immer wieder, wie wichtig der Austausch und die Zusammenarbeit zwischen den Start-ups und den Unternehmen ist. Hier kommt das Beste aus beiden Welten zusammen. Als etabliertes Versicherungsunternehmen haben wir jahrelange Erfahrung in der Erfüllung von Kundenbedürfnissen und kennen diese genau. Die Start-ups profitieren von diesem Wissen und liefern ihrerseits wichtige externe Impulse und neue Ideen. Der große Mehrwert entsteht somit durch strategische Kooperationen mit ausgewählten Start-ups, die wir zunächst strukturiert über Innovationsprogramme identifizieren und anschließend entlang der gesamten Wertschöpfungskette mit den Fachbereichen in unserem Haus zusammenzuführen. Mit unserem eigenen Start-up Uptodate bieten wir zudem Lösungen rund um Haus und Wohnen an. Dazu gehört neben Sicherheits- und Komfortlösungen insbesondere der Schwerpunkt Gesundheit.

Im Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis können weitere neue Entwicklungsfelder identifiziert werden. Der ITHM verfügt z. B. über Partnerschaften mit zahlreichen Universitäten, die wiederum für einen Innovationsschub im Zusammenspiel mit den Corporates und Start-ups sorgen.

Welche sind für Sie die größten Innovationen in der Versicherungsbranche der letzten Jahre?

Dr. Robert Heene: Das ist sicherlich wie schon beschrieben der Einsatz von KI in Kombination mit Data Analytics. Die Technologie kann in kürzester Zeit eine Vielzahl von Möglichkeiten durchrechnen, Prognosen erstellen und somit auch Entscheidungen erleichtern – aber auch entlasten, um Zeit für wertschöpfende Aufgaben einzusetzen.

Was sind die Konsequenzen einer zunehmenden Digitalisierung für die Vermittler?

Dr. Robert Heene: Digitalisierung und Vertrieb werden vielfach noch nicht als Symbiose angesehen. Damit meine ich nicht die klassischen Direkt- oder Internetversicherer, sondern den personellen Vertrieb, der für die Versicherungsbranche nach wie vor eine hohe Bedeutung hat. Besonders die ersten Monate der Corona-Pandemie, als auch die Versicherer ihre Geschäftsstellen für den Kundenverkehr schließen mussten, haben uns gezeigt, dass Kundenbeziehungen gerade durch die Stärkung des digital-personellen Vertriebs sehr gut aufrechterhalten werden oder gar intensiviert werden können. Die vielfältigen digitalen Kommunikationsmittel haben zumindest im Konzern Versicherungskammer dazu geführt, dass im ersten Tertial des laufenden Geschäftsjahres keine Einbrüche im Neugeschäft zu verzeichnen waren. Die Stärkung dieser Kontaktmöglichkeiten kann auch in Nicht-Krisenzeiten die Effizienz fördern und über häufigere, zeitsparendere Interaktionsmöglichkeiten mit den Kunden, die Bindung und das Vertrauen erhöhen.

Welche Rolle spielt der Mensch im Vermittlungsprozess der Zukunft?

Dr. Robert Heene: Derzeit zeigt sich, wie wichtig eine vertrauensvolle Kundenbeziehung in Verbindung mit innovativen Lösungen ist. Als traditionell in den Regionen ausgerichteter öffentlicher Versicherer und Teil der S-Finanzgruppe steht für die Versicherungskammer der Kontakt zum Kunden im Mittelpunkt aller Geschäftsabläufe. Dies gilt für die Präsenz in den Geschäftsgebieten aller Konzernunternehmen ebenso wie für alle Online-Kanäle.

Herr Dr. Heene, vielen Dank für das Gespräch.

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