Melanie Tings-Beckers: In Deutschland sind wir sehr leidensfähig

Interview mit Melanie Tings-Beckers
Melanie Tings-Beckers ist selbständiger Coach in Stolberg. Mit ihr sprechen wir über Unzufriedenheit von Beschäftigten, Jobwechsel sowie neue Herausforderungen.

Es gibt zahlreiche Gründe, warum Beschäftigte unzufrieden mit ihrem Job sind. Für viele ist aber eine berufliche Neuorientierung keine Option. Was sind die häufigsten Gründe, die zu einer Jobunzufriedenheit führen?

Melanie Tings-Beckers: Der häufigste Grund, den ich in meiner Coaching-Praxis höre, ist mangelndes Sinnerleben. Dies kann sich zum einen auf die zu erledigenden Aufgaben direkt beziehen und/oder aber auch auf das, wofür das Unternehmen steht. Die Menschen, die zwecks Neuorientierung in mein Coaching kommen, wünschen sich, einen echten Beitrag mit ihrer Arbeit zu leisten. Weitere Gründe sind wenig bis gar keine Anerkennung und Wertschätzung seitens der Führungskräfte gegenüber den Mitarbeitenden, bzw. die Arbeit, die diese leisten. Gleich gefolgt von mangelnden Angeboten zur fachlichen und persönlichen Weiterentwicklung.

Woher weiß man, dass es Zeit ist den Job zu wechseln, um sich neuen Herausforderungen zu stellen?

Melanie Tings-Beckers: Ich empfehle jedem nicht so lange zu warten, bis die Unzufriedenheit so groß ist, dass du bereits freitags mit Schrecken an montags denkst und du dich jeden Tag zwingen musst, zur Arbeit zu gehen und erst recht nicht so lange zu warten, bis gesundheitliche Beeinträchtigungen auftreten. In Deutschland sind wir sehr leidensfähig, meine Klient*innen kommen häufig erst zu mir, wenn es schon sehr schlimm ist. Dann haben sie oftmals schon viele Ratgeber gelesen, sind aber nie zu einer Lösung für sich gekommen – warum, weil das Feedback fehlt. Ich ermutige jede*n sich mit seiner beruflichen Situation regelmäßig auseinanderzusetzen und im Zuge dessen immer wieder zu reflektieren, bspw. mit Fragen wie: „Wo stehe ich beruflich“, „Wo möchte ich hin?“, „Macht mich meine Arbeit zufrieden?“ „Was sollte besser/anders sein?“ etc.

Viele Beschäftigte über 35 haben Hemmungen sich neu zu orientieren. Kann man im fortgeschrittenen Alter noch adäquat Karriere machen?

Melanie Tings-Beckers: Die Frage, die sich jede(r) hier einmal beantworten darf ist: Was genau verstehe ich unter „Karriere“? Was bedeutet „Karriere machen“ konkret für mich?

Hierzulande wird dem Begriff „Karriere“ überwiegend die Bedeutung „beruflicher Erfolg“ im Sinne von Aufstieg zugeschrieben, zumeist verknüpft mit einem Vergütungs-Plus. Ich persönlich finde, dass wir den Begriff wesentlich neutraler und umfassender interpretieren dürfen – so wie im Englischen. Hier wird „Career“ nicht notwendigerweise mit einem Ergebnis, d. h. einem beruflichen Aufstieg assoziiert. Und auch für mich persönlich bedeutet Karriere nicht beruflicher Aufstieg, sondern die bewusste Entwicklung des eigenen Berufsweges als ein kontinuierlicher Prozess, bei dem der Mensch langfristig seine individuellen Potenziale und Stärken zur Geltung bringt – und dies ist völlig unabhängig vom Lebensalter. Um also die Ausgangsfrage zu beantworten: Definitiv! Wir können in jedem Alter adäquat Karriere machen!

Ein Neuanfang ist immer schwer. Wie kann man mentale Hürden der Neuorientierung überwinden?

Melanie Tings-Beckers: Der erste Schritt liegt darin, diese mentalen Hürden zunächst einmal bewusst wahrzunehmen und konkret zu benennen, wichtig dabei, bewerte diese Hürden nicht. Frage dich: Welche Gedanken kreisen in deinem Kopf? Was genau hindert mich? Welche Befürchtungen habe ich? Oftmals bilden meine Klient*innen ganz viele Hypothesen, was alles sein könnte, passieren könnte, etc. Meine Empfehlung hier lautet: Mach den Realitätscheck und überprüfe, ob deine Annahmen wirklich stimmen, z. B. indem du mit Menschen sprichst, die einen Job ausüben, der für dich interessant klingt. Oftmals sind es auch Glaubenssätze, d. h. negative Überzeugungen über uns selbst, die uns blockieren, limitieren und somit im Wege stehen, uns beruflich zu verändern. Diese Glaubenssätze kann man wunderbar mittels Coachings auflösen und in stärkende Überzeugungen transformieren.

Was muss man also tun, damit eine berufliche Neuorientierung gelingt?

Melanie Tings-Beckers: Sich einmal ganz intensiv mit sich selbst systematisch auseinanderzusetzen und am besten nimmst du dir dazu jemanden an die Seite, der Impulse liefert, Fragen stellt und dich nicht in eine bestimmte Richtung lenkt – eine(n) Coach (in). Die Antworten auf die Fragen, sind bereits in den Klienten vorhanden, sind in der Regel aber „verschüttet“ und kommen im Laufe des Coaching-Prozesses wieder an die Oberfläche und ins Bewusstsein. Ich bin immer wieder aufs Neue erstaunt und auch gerührt, wenn der „AHA-Moment“ in den Gesichtern meiner Klient*innen erkennbar ist.

Was raten Sie Beschäftigten, die mit dem Gedanken spielen, den Beruf zu wechseln?

Melanie Tings-Beckers: Gehe in die Analyse, zieh den Forscherkittel an und erforsche, was du brauchst, was du möchtest, was dir aktuell fehlt. Und, noch etwas ganz Wichtiges, was ich aus der Praxis mitgeben kann: oftmals braucht es gar keinen kompletten Berufswechsel. Vielleicht reicht ein Branchenwechsel, neue Aufgabenfelder innerhalb deines Berufes, ein Unternehmenswechsel. Finde heraus, was du wirklich brauchst und suche dir den Job, der wirklich zu dir passt! Unsere Lebenszeit ist so wertvoll, warum diese also in einem Job verbringen, der uns unglücklich macht. Gehe in die Selbstverantwortung, d. h. mutig voran!

Frau Tings-Beckers, vielen Dank für das Gespräch!

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