No-Deal-Brexit: Mittelstand könnte überrollt werden – Dr. Lars Haverkamp

Interview mit Dr. Lars Haverkamp
Rechtsanwalt Dr. Lars Haverkamp ist Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht sowie für Internationales Wirtschaftsrecht bei Rechtsanwälte Dr. Haverkamp, Dr. Mäscher & Partner mbB. Im Interview weist er auf 10 Unsicherheiten hin, die in Folge eines No-Deal-Brexit relevant werden.

Ein unkontrollierter Brexit wird immer wahrscheinlicher. Was wären die schlimmsten, sofort auftretenden Konsequenzen für Unternehmen, die in GB tätig sind bzw. dort produzieren?

Dr. Lars Haverkamp: Im Falle eines “No-Deal-Brexit“ wird am 01.01.2021 um 00:00 Uhr gegenüber dem Vereinigten Königreich sofort ein Rechtszustand eintreten, der unsicherer ist, als gegenüber vielen anderen Staaten Europas. Denn mit anderen europäischen Nicht-EU-Staaten (z.B. Norwegen, Island, Schweiz) wurden parallel zum europäischen Einigungsprozess ja Staatsverträge ausgehandelt, die versuchen durch Vereinheitlichung die zwischenstaatliche Rechtssicherheit zu erhöhen. Derartige Staatsverträge sind mit dem Vereinigten Königreich aber natürlich in den vergangenen 47 Jahren nicht mehr abgeschlossen worden, da die Rechtsvereinheitlichung ja auf breiter Front auf Ebene der EU erfolgte.

Und genau darin liegt m.E. das größte Problem: Die Vielzahl der Rechtsgebiete, auf denen sich infolge fehlender bzw. rückgängig gemachter Vereinheitlichung Unsicherheiten ergeben.

  • Die Gerichtszuständigkeiten sind nicht mehr vereinheitlicht, die wechselseitige Anerkennung von Urteilen nicht mehr gewährleistet, da kein entsprechender Staatsvertrag besteht.
  • Eingetragene Unionsmarken werden für das Vereinigte Königreich keinen Schutz mehr gewährleisten, da das Vereinigte Königreich eben nicht mehr Mitglied der Union ist.
  • Arbeitnehmer, die im Vereinigten Königreich arbeiten, werden nicht mehr ohne weiteres ein längerfristiges Bleiberecht haben, da die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit entfällt.
  • Europäische Produktstandards bzw. Sicherheitsvorgaben sind nicht mehr zwingend ausreichend, um Produkte im Vereinigten Königreich absetzen zu können, da die Grundfreiheit der Warenverkehrsfreiheit nicht mehr gilt.
  • Verträge, die räumlich für das Gebiet der EU gelten, z.B. Lizenzverträge, Vertriebsverträge, Handelsvertreterverträge etc., sind sofort lückenhaft und bedürfen einer Ergänzung, soweit sie für das Gebiet des Vereinigten Königreichs weitergelten sollen, da kein Gebiet der EU mehr betroffen ist.
  • Britische Handelsvertreter könnten u.U. aus dem Anwendungsbereich der weitgehend vereinheitlichten Standards herausfallen.
  • Sofern keine wirksame Rechtswahl in dem Vertrag getroffen wurde, kann sich – jedenfalls aus Sicht der britischen Gerichte – ein anderes anwendbares Recht ergeben, als bis dato aus Sicht der Vertragsparteien angenommen.
  • Die Einfuhrformalitäten für Güter etc. werden sich voraussichtlich erheblich verkomplizieren und damit die Belieferung von Produktionsstandorten verzögern.
  • Zudem ist bereits angekündigt, dass zukünftig Zölle, wenn auch wohl mit einem vereinheitlichten Pauschalsatz, auf Einfuhren erhoben werden.
  • Und schlussendlich werden Gesellschaften, die nach deutschem Recht gegründet wurden und im Vereinigten Königreich tätig sind, dann Probleme bekommen, wenn die Geschäftsführungsentscheidungen dieser Gesellschaften nicht in Deutschland, sondern im Vereinigten Königreich getroffen werden sollten.

Für viele dieser Punkte können Lösungen gefunden werden, aber nur mit entsprechendem zeitlichem Vorlauf. Die größte Gefahr besteht daher darin, dass die Unternehmen den 31.12.2020 unvorbereitet abwarten und dann von automatisch eintretenden Änderungen auf vielen Ebenen überfordert werden.

Welche Branchen sind aktuell am stärksten durch Verwerfungen vom Brexit betroffen?

Dr. Lars Haverkamp: Am stärksten betroffen sind natürlich die Export-orientierten Branchen wie die Automobilindustrie und der Maschinenbau. Für diese Unternehmen ist die derzeit und schon seit langem bestehende Unsicherheit natürlich eine planerische Herausforderung. Soweit ich sehe, stellen sich viele große Unternehmen derzeit auf einen No-Deal-Brexit ein und passen ihre Verträge entsprechend an etc. Sorge bereitet mir allerdings der Mittelstand, also kleinere und mittlere Unternehmen, die zwar stark im Vereinigten Königreich engagiert sind, aber noch nicht die Zeit gefunden haben, die Rechtslage in ihren Verträgen aufzuarbeiten, Risiken zu identifizieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Hier sehe ich die Gefahr, dass derartiges Abwarten dazu führen könnte, am 01.01.2021 von den eintretenden Änderungen überrollt zu werden.

Welche rechtlichen Grundlagen würden für den Handel mit Unternehmen aus GB bei einem unkontrollierten Brexit Anwendung finden?

Dr. Lars Haverkamp: Im Falle eine No-Deal-Brexit kommen aus deutscher Warte zur Bestimmung des anwendbaren Rechts weiterhin die Rom I-Verordnung sowie die Rom II-Verordnung zur Anwendung. Es ist daher jedenfalls sichergestellt, dass bestimmt werden kann, welche Rechtsordnung über einen Vertrag etc. entscheidet.

Im Übrigen wird aller Voraussicht nach jedoch der britische Gesetzgeber eingreifen, um bestimmte Vorgaben zu machen, z.B. im Bereich der Produktsicherheit usw. Diese wären dann auch von deutschen Unternehmen einzuhalten, wenn sie ihre Produkte auf dem britischen Markt absetzen wollen. Das ist dann eine Situation, wie sie z.B. auch gegenüber ost- und süd-ost-europäischen Staaten vorliegt, die nicht Mitgliedstaaten der EU sind. Auch dort muss sich ein in diesen Märkten tätiges deutsches Unternehmen ja der ausländischen Rechtsordnung anpassen.

Wie können sich Unternehmen vorbereiten, die unmittelbar vom Brexit betroffen sind?

Dr. Lars Haverkamp: Unternehmen, die vom Brexit betroffen sind, sollten frühzeitig ihre rechtliche Situation daraufhin überprüfen, ob sich im Falle eines No-Deal-Brexit Probleme ergeben. Sofern das der Fall ist, sollte die verbleibende Zeit genutzt werden, um mit dem jeweiligen Vertragspartner Lösungen auszuhandeln. Auch sollte sich das Unternehmen darauf einstellen, dass sich die Produktion u.U. verzögert und mit hoher Wahrscheinlichkeit verteuern wird. Damit zusammenhängende Preiserhöhungen müssten also ggf. rechtzeitig angekündigt werden.

Falls noch nicht geschehen, sollte auch überprüft werden, ob der britische Standort in eine britische Rechtsform überführt und damit verselbständigt wird.

Welche sind die häufigsten Mandate, die Sie im Zusammenhang mit dem Brexit betreuen?

Dr. Lars Haverkamp: Die meisten Brexit-Mandate betreue ich derzeit im Bereich der gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung sowie der Neu-Verhandlung von Verträgen. Da der Anwalt immer den sichersten Weg aufzeigen soll und sich derzeit in den bekannt gewordenen Verhandlungsinhalten die Indizien mehren, dass wir auf einen No-Deal-Brexit zusteuern, berate ich meine Mandanten klar dahingehend, sich auf das Worst-Case-Szenario einzustellen. Natürlich muss nicht jeder schon heute z.B. internationale Marken anmelden, weil er befürchtet, dass die bisherige Unionsmarke ab dem 01.01.2021 für das Vereinigte Königreich obsolet ist. Aber rechtzeitig Vorsorge zu treffen, wo man kann und wo beide Seiten noch Interesse an einer Einigung haben, scheint aus meiner Warte zwingend.

Herr Dr. Haverkamp, vielen Dank für das Gespräch.

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