Dr. Christine Lemaitre: Den Wert von Produkten so lange wie möglich erhalten

Interview mit Dr. Christine Lemaitre
Dr. Christine Lemaitre ist Geschäftsführender Vorstand der DGNB e.V. in Stuttgart. Mit ihr sprechen wir über negative Umweltauswirkungen, Ressourcenverbrauch sowie dem Ausdienen der linearen Wirtschaft.

Das Konzept der Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) gilt als Wirtschaftsmodell der Zukunft. Können Sie uns dieses Modell genauer erklären?

Dr. Christine Lemaitre: Das Konzept der Circular Economy basiert auf der Denkschule Cradle-to-cradle („von der Wiege zur Wiege“). Sie hat zum Ziel, nicht nur die eigenen negativen Umweltauswirkungen wie CO2-Ausstoß, gesundheitsgefährdende Schadstoffeinträge oder Ressourcenverbräuche zu minimieren, sondern vielmehr einen positiven Beitrag zu leisten. Das gelingt, wenn bereits beim Design von Produkten das Ziel im Vordergrund steht, den Wert so lange wie möglich zu erhalten. Wenn Rohstoffe im Kreislauf geführt und wiederum als Basis für neue Materialien oder Produkte dienen, wird die Entstehung von Müll vermieden und man kann von einem sich selbst regenerierenden System sprechen.

Immer wieder bekommt man zu hören, dass die lineare Wirtschaft ausgedient hat. Wie schätzen Sie das ein?

Dr. Christine Lemaitre: Das lineare Modell, das nicht den möglichst lange andauernden Werterhalt eines Produkts als oberstes Qualitätsmerkmal als Ziel hat, ist der Grund für viele Probleme, vor denen wir heute stehen. Stichworte sind die globale Erderwärmung und knapper werdende Ressourcen. Die seit Jahrzehnten ausgegebenen Weltklimaberichte und Reportings zu nachhaltiger Entwicklung machen deutlich, dass lineares Wirtschaften nicht im Einklang steht mit dem Ziel einer intergenerativen Gerechtigkeit, die das Leben zukünftiger Generationen sicherstellen soll. Die Transformation hin zur Circular Economy braucht vor allem Haltungsveränderungen im Sinne der Suffizienz. Sie stellt die Frage nach der Genügsamkeit und dem tatsächlichen Bedarf und hat zum Ziel Ressourcen und CO2 einzusparen, indem alles, was nicht wirklich benötigt wird, weggelassen wird.

Das Wirtschaftsmodell Circular Economy wird immer als nachhaltig betitelt. Auf welche Weise fördert die Circular Economy die Ressourcenschonung?

Dr. Christine Lemaitre: Circular Economy ist sicher kein Synonym für Nachhaltigkeit und auch kein Selbstzweck. Im Grunde ist es ein Themenfeld um die Ziele Klimaschutz, Ressourcenschutz und auch die Bewahrung der Biodiversität umzusetzen. Der Ressourcenschutz ist sicher der größte Treiber für Circular Economy Strategien und lässt sich für die Baubranche in drei Stufen unterscheiden, die den Werterhalt von Bauprodukten und damit eben die Ressourcenschonung zum Ziel haben:

1.           Ressourceneinsatz vermeiden: Wie bereits angesprochen geht es im Sinne der Suffizienz darum, üblicherweise Genutztes zu hinterfragen und wegzulassen. Kann ich bei gleicher Funktion auf Bauteile verzichten? Ressourcenschonung gelingt aber auch, indem durch Effektivität und Effizienz weniger Materialeinsatz für eine bestimmte Funktion nötig ist. Zudem zielt die erste Stufe darauf ab, keine neuen Rohstoffe abzubauen und stattdessen Bauteile und Bauelemente wiederzuverwenden. Nicht zuletzt hilft es die Nutzungsintensität zu erhöhen, z.B. indem Flächen geteilt werden.

2.           Bauteilen ein zweites Leben zu geben: Durch Reparatur, Überholung oder Aufrüstung können Bauelemente, die normalerweise zu Abfall würden, erneut verwendet werden.

3.           Werterhaltend recyceln: Nicht alle Bauprodukte oder Bauteile lassen sich 1:1 wiederverwenden. Deshalb bezieht sich die dritte Stufe auf die Aufbereitung und das Recycling von Ressourcen, um diese nochmals nutzbar zu machen.

Dieser werterhaltende Umgang mit Ressourcen führt zu einer anderen Planungsweise. Von vorneherein wird berücksichtigt, wo Baustoffe herkommen und wie sie im Sinne der Kreislaufführung wieder zurückgebaut oder getrennt werden können. Mit Blick auf unseren sanierungsbedürftigen Gebäudebestand sollte im Sinne des Werterhalts immer geprüft werden, ob ein Gebäude erhalten werden kann. Macht dies aus Nachhaltigkeitsperspektive keinen Sinn, gilt es, dieses so zurückzubauen, dass möglichst viele Ressourcen zur weiteren Verwendung und Verwertung zur Verfügung stehen.

Die Liste von den Einsatzmöglichkeiten des Modells ist lang. Wie können Unternehmen die Circular Economy im eigenen Unternehmen integrieren?

Dr. Christine Lemaitre: Indem sie oben genannte Fragestellungen auf ihre eigenen Prozesse übertragen. Produzierende Unternehmen sollten ihren Umgang mit Rohstoffen und ihren Lieferketten überdenken, und ihre Prozesse zirkulär ausrichten und beispielsweise ihre Produkte am Ende der Nutzungszeit zurücknehmen und wieder- oder weiterverwerten. Aber auch im Facility Management lassen sich Ressourcen schonen, indem Maßnahmen ergriffen werden, um die Abfallentstehung zu verhindern. Im Sinne der Circular Economy steht auch ein sinnvoller Umgang mit Flächen: Mehrfachnutzung und Sharing-Konzepte erhöhen die Nutzungsintensität.

Viele denken, dass Nachhaltigkeit immer an einen hohen Preis geknüpft ist. Wie wird die Circular Economy finanziert und ist das Stigma, dass Nachhaltigkeit hohe Kosten mit sich bringt, wirklich wahr?

Dr. Christine Lemaitre: Wir haben uns im Pariser Klimaabkommen auf eine Reduktion der CO2-Emissionen verpflichtet. Die Frage lautet nicht, ob wir dieses Ziel umsetzen sollten oder nicht, sondern wie wir es erreichen. Klimaschutz ist ebenso wie ein Katastrophenschutz eine gesellschaftliche Randbedingung – und die Circular Economy ein Handlungsfeld, um die Ziele des Paris-Abkommens zu erreichen. Haben wir das begriffen, dreht sich eine zielführende Diskussion nicht darum, ob hohe Kosten entstehen, sondern wie das Ziel am besten – d.h. im Einklang mit Menschen und Umwelt – und am wirtschaftlich sinnvollsten erreicht werden kann. Es ist absurd, die immens hohen Umweltfolgekosten, die mit nicht-Pariskonformen und nicht-nachhaltigen Bauweisen einhergehen gegen eine möglicherweise etwas höheren Investition in der Herstellung aufzuwiegen. Abgesehen davon, führt der Mut zur Einfachheit, zur Ressourcenvermeidung und der effektivere und effizientere Umgang mit Ressourcen sicherlich nicht zu höheren Kosten. Ein wesentlicher Hebel liegt im Bauen in der frühen Planungszeit, in welcher alle Ziele festgeschrieben werden.

Noch hat die Circular Economy das lineare Wirtschaftsmodell nicht abgelöst, allerdings sind die Prinzipien in Ansätzen bereits in zahlreichen Unternehmen zu finden. Die Europäische Union hat mit ihrem Green Deal das Ziel, Finanzen verstärkt in nachhaltiges Handeln fließen zu lassen und so den Sektor zu transformieren. Nehmen diese Bestrebungen weiter an Fahrt auf, werden sich Unternehmen im Vorteil wähnen, die sich bereits auf das Thema Circular Economy eingestellt haben. 

Frau Lemaitre, vielen Dank für das Gespräch!

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