Dr. Matthias Fertig: „Freedom Day“ wäre eher kontraproduktiv

Interview mit Dr. Matthias Fertig
Dr. Matthias Fertig ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Spilker & Collegen Rechtsanwälte in Erfurt. Mit ihm sprechen wir über Herdenimmunität, veränderte Infektionszahlen sowie Freedom-Day.

Großbritannien hat dem „Freedom Day“ einen „Quasi-Feiertag“ ins Leben gerufen, um das Ende der Corona-Auflagen einzuleiten. Wie beurteilen Sie diese Vorgehensweise?

Dr. Matthias Fertig: Nach Auffassung des Unterzeichners ist das Vorgehen von Großbritannien auf Deutschland nicht zu übertragen. Ein „Freedom Day“ kommt nur dann in Betracht, wenn eine ausreichende Herdenimmunität hergestellt ist. Diese Herdenimmunität kann nur dann erreicht werden, wenn auch die Altersgruppe der unter 12-Jährigen perspektivisch geimpft werden kann. In Anbetracht der sich dramatisch verändernden Infektionszahlen wird deutlich, dass nicht nur die gefährdeten Gruppen der über 60-Jährigen erhebliches Risikopotential beinhalten, sondern auch die Gruppen der unter 12-Jährigen, die bis zum jetzigen Zeitpunkt schutzlos sind. Allerdings kann eine Impfung erst dann erfolgen, wenn die STIKO die entsprechende Freigabe von Impfstoffen erklärt.

Ist ein ähnliches Szenario vielleicht auch in Deutschland denkbar, denn Jens Spahn hat von einem Ende der epidemischen Lage Ende November gesprochen?

Dr. Matthias Fertig: Die aktuellen Zahlen belegen, dass ein ähnliches Szenario in Deutschland nicht denkbar ist, da die Lage sich dramatisch verändert hat (s. zu 1.).

Premierminister Johnson argumentierte, dass ein harter Herbst und Winter vor der Tür stehen. Bedeutet der „Freedom Day“ und die komplette Lockerung der Restriktionen deshalb nicht „Öl ins Feuer“ zu gießen und ist eine neue Infektionswelle quasi vorprogrammiert?

Dr. Matthias Fertig: Wie bereits dargelegt, belegen die aktuellen Zahlen, dass die Infektionszahlen steigen und ein „Freedom Day“ eher kontraproduktiv ist.

Statt eines Lockdowns gibt es nun die „Selbstisolation“, sobald Kontakt zu einer infizierten Person bestätigt wurde. Der britische Premierminister vertraut dabei auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnern und Bürger. Ist ein ähnliches Konzept für den kommenden Winter auch in Deutschland möglich, um somit einen Lockdown zu umgehen und die Wirtschaft aufrechtzuerhalten?

Dr. Matthias Fertig: Das grundsätzliche Prinzip der Eigenverantwortung sollte immer gelten. Jeder Bürger muss sich selbst fragen, ob er für den Fall einer Infektion das Risiko eingehen will, andere zu infizieren. Die soziale Verantwortung der Bürger in der Gesellschaft verpflichtet jeden Bürger, auf sein Umfeld Rücksicht zu nehmen. Ob allerdings die Eigenverantwortung in der Breite der Gesellschaft so stark ausgeprägt ist, dass sich alle von allein an eine „Selbstisolation“ halten, mag ich bezweifeln. Somit ist das in Deutschland vorherrschende aktuelle Quarantänesystem der sinnvollere Weg, um einen Lockdown zu umgehen und die Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Gerade in UK dominiert die neue Corona-Variante „Delta“ das Infektionsgeschehen. Insbesondere unter jungen Menschen stecken sich viele an. Doch gerade die waren es, die den „Freedom Day“ in den Nachtclubs eingeläutet haben. Wie sinnvoll ist der „Freedom Day“ also Ihrer Meinung nach gewesen?

Dr. Matthias Fertig: Der „Freedom Day“ ist grundsätzlich nicht abzulehnen. Die Gesellschaft muss immer die freiheitlichen Grundrechte und die Notwendigkeit deren Einschränkung im Falle eines Infektionsgeschehens mit nationaler Tragweite ins Verhältnis stellen. Der „Freedom Day“ kann – wie bereits unter 1. genannt – nur dann „eingeläutet“ werden, wenn eine hinreichende Herdenimmunität erreicht ist. Solange diese nicht nachweisbar festgestellt werden kann, ist ein „Freedom Day“ weder nachvollziehbar noch zu verantworten. Die solidarische Gemeinschaft muss immer auf ihre schwächsten Glieder Rücksicht nehmen. Dies sind insbesondere die Kinder und die ältere Bevölkerung sowie diejenigen mit erheblichen Vorerkrankungen.

Johnsons Vorgehensweise wird vielerorts als chaotisch und ineffektiv kritisiert. Wie beurteilen Sie sein Corona-Management insgesamt?

Dr. Matthias Fertig: Die Beurteilung des Krisenmanagements in einem anderen Staat sollte sehr zurückhaltend vorgenommen werden. Das Gesundheitssystem in Großbritannien ist mit dem deutschen nur begrenzt vergleichbar, auch sind die politischen Entscheidungen der letzten Jahre für das Verhalten der britischen Regierung zu berücksichtigen. Eine derartige Beurteilung sollte von außen nicht erfolgen. Maßgelblich ist, ob die Maßnahmen in Deutschland unter den hier vorherrschenden Bedingungen nachvollziehbar und effizient sind. Die Konzentration muss also darauf liegen, dass unter Federführung des RKI und der STIKO die pandemische Lage beurteilt und Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden. Leider hat die Politik in den letzten Monaten gezeigt, dass sie mit der Situation überfordert ist und die notwendigen Entscheidungen, die erforderlich gewesen wären, nicht bereit war zu treffen.

Herr Dr. Fertig, vielen Dank für das Gespräch!

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