Prof. Dr. Julia Gokel: Fortschreitende Digitalisierung

Interview mit Prof. Dr. Julia Gokel
Prof. Dr. Julia Gokel ist Rechtsanwältin und Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg. Mit ihr sprechen wir über eAU, Sinn und Zweck der Umstellung sowie Entbürokratisierung.

Ab 1. Oktober 2021 wird die digitale Krankmeldung Pflicht. Diese Umstellung war schon lange geplant. Warum wird das Projekt doch erst jetzt in Angriff genommen?

Prof. Dr. Julia Gokel: Die Umstellung von der papiergebundenen (analogen) auf die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) war bereits im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD beschlossen und trat im Zuge des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) vom Mai 2019 bzw. im Rahmen des sog. „Dritten Bürokratieentlastungsgesetzes“ (BEG III) im November 2019 in Kraft. Sinn und Zweck dieser Gesetze ist insbesondere das Vorantreiben der Digitalisierung im Gesundheitswesen sowie die Entlastung von Bürokratie. Wenn man sich vorstellt, dass in Deutschland pro Jahr ca. 75 Millionen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt werden, wird dieses Ziel für die Versicherten sicher erfüllt. Denn der mit dem „gelben Zettel“ bis dato verbundene manuelle Bearbeitungsaufwand ist, wie es der Gesetzgeber formuliert, „angesichts der fortschreitenden Digitalisierung nicht mehr zeitgemäß“. Anstatt wie bisher drei verschiedene Durchschläge (ein Original für die Krankenkasse, einen Durchschlag für den Arbeitgeber und einen für die/den Versicherte*n) erhält die/der Versicherte nun nur noch einen Durchschlag für die eigenen Unterlagen. Daneben werden die AU-Daten direkt digital vom Arzt/Ärztin an die Krankenkasse übermittelt und in einem zweiten Schritt den Arbeitgeber*innen von der Krankenkasse zum Abruf bereitgestellt.

So sehr die Umstellung einerseits die Bürger*innen entlastet (der Gesetzgeber rechnet mit 19 250 000 Stunden Zeitersparnis und 77 Millionen Euro finanzieller Entlastung), so sehr werden andererseits die Leistungserbringer und Leistungsträger belastet. Beispielsweise bedarf es zuvor der flächendeckenden Anbindung aller Vertrags(zahn)ärzt*innen an die Telematikinfrastruktur. Auch für die Krankenkassen stellt die Weiterleitung und Kontrolle der eAU eine Mehrbelastung dar, insbesondere wenn es zu Störfällen kommt, die einer Aufklärung bedürfen. Zudem gab es neben technisch-organisatorischen Verzögerungen noch juristische Fragen, wie z. B. die Haftung im Falle einer fehlerhaften Übermittlung im elektronischen Verfahren. Und letztlich wollte man die Leistungserbringer angesichts der anhaltenden Pandemie-Situation nicht zusätzlich belasten.

Wird die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab 1. Oktober ausschließlich digital ausgestellt?

Prof. Dr. Julia Gokel: Nein. Ab Oktober 2021 kann, ab 1.1.2022 muss, der Durchschlag an die Krankenkasse entfallen. Für Vertrags(zahn)ärzt*innen, in deren Praxis die notwenigen technischen Voraussetzungen noch nicht zur Verfügung stehen, gilt aufgrund einer zwischen KBV und GKV-Spitzenverband getroffenen Vereinbarung eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2021. Erst ab dem 1.7.2022, wenn in einem zweiten Schritt auch die Arbeitgeber in den Prozess einbezogen sind, wird die Krankschreibung dann einheitlich und verbindlich digital erfolgen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bescheinigung ausschließlich digital ausgestellt wird. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die Ärzt*innen bis auf Weiteres zweigleisig (digital und analog) fahren. Denn zum einen betrifft die Neuregelung nur die gesetzlich Krankenversicherten. Und zum anderen sieht das Gesetz in § 109 Abs. 1. S. 5 SGB V n. F., der zum 01.01.2022 in Kraft tritt, ausdrücklich vor, dass der/die behandelnde Arzt/Ärztin weiterhin verpflichtet bleibt, der/dem Versicherten eine ärztliche Bescheinigung in Papierform auszuhändigen.

Das ist insofern wichtig, als die elektronische Meldung zum Abruf durch den Arbeitgeber bei den Krankenkassen die ärztliche Bescheinigung in Papierform nicht ersetzt. Diese Bescheinigung benötigt die/der Arbeitnehmer*in nach wie vor zu Beweiszwecken, insbesondere, um in Störfällen das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit nachweisen zu können. Gerade in einem Arbeitsgerichtsprozess kommt der (ordnungsgemäß erteilten) ärztlichen Bescheinigung eine hohe Bedeutung zu. Sie stellt für die Arbeitnehmer*innen eine Beweiserleichterung dar, weil sie nach ständiger Rechtsprechung einen sog. „Anscheinsbeweis“ erzeugt. Das bedeutet, dass das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit vom Gericht unterstellt wird, wenn der/die Arbeitnehmer*in eine ärztliche Bescheinigung eingeholt und dem Arbeitgeber vorgelegt hat. Weitere Nachweise sind im Regelfall nicht erforderlich.

Auf diese Weise kann zwar Digitalisierung im Gesundheitswesen einziehen, doch das Gesetz war nicht zwingend notwendig. Welche Vorteile hat die digitale Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in der Praxis?

Prof. Dr. Julia Gokel: Beim Stichwort „Einzug der Digitalisierung im Gesundheitswesen“ gilt es zu unterscheiden: Die digitale Fernübermittelung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist als bloßes Meldeverfahren strikt von der (telemedizinischen) Fernuntersuchung durch den/die Arzt/Ärztin zu unterscheiden.

Zu den Vorteilen des neuen Meldeverfahrens für die Arbeitnehmer*innen zählt neben der bereits dargestellten Zeit- und Kostenersparnis im Berufsalltag sicher, dass die Bescheinigung schneller bei der zuständigen Stelle eintrifft als per Post und somit eine fristgemäße Meldung der Arbeitsunfähigkeit sichergestellt ist. Dies hat z. B. zur Folge, dass im Falle des Anspruches auf Krankengeld dieses schneller ausgezahlt werden kann. Zudem können die in der Praxis häufig auftretenden arbeitsrechtlichen Streitigkeiten über die rechtzeitige Vorlage der Bescheinigung künftig vermieden werden.

Dazu muss man wissen, dass die Suspendierung von der Arbeitspflicht und der Anspruch auf Entgeltfortzahlung rechtlich von einer ordnungsgemäß ausgestellten und rechtzeitig vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abhängen. Ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht konnte nach alter Rechtslage weitreichende Konsequenzen für die insoweit allein verantwortlichen Beschäftigten haben: Nach vorheriger Abmahnung und wiederholtem Verstoß konnte der Arbeitgeber verhaltensbedingt kündigen und war dazu berechtigt die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zurückzuhalten.

Dass das elektronische Verfahren grundsätzlich funktioniert, zeigt ein Pilotprojekt der Techniker Krankenkasse. Können Sie uns sagen, wie der Prozess des “digitalen gelben Scheins” seitens der Ärzte, Ärztinnen und Krankenkassen ab dem 1. Oktober ablaufen wird?

Prof. Dr. Julia Gokel: Um eine eAU auszustellen, ruft die/der Arzt/Ärztin zunächst wie gewohnt die Formatvorlage für die AU in seinem Praxisverwaltungssystem (PVS) auf und füllt diese aus. Anstelle der händischen Unterschrift erfolgt die Autorisierung mit qualifizierter elektronischer Signatur (QES) rechtssicher durch den elektronischen Heilberufsausweis des Arztes/der Ärztin. Per Klick erfolgt dann die elektronische Übertragung der eAU über den KIM-Dienst an die Krankenkasse.

Was ändert sich rechtlich für Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit dem Gesetz?

Prof. Dr. Julia Gokel: Die elektronische Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an die Krankenkasse wird durch eine Änderung im SGB V umgesetzt. Nach § 295 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. S. 7 SGB V n. F., welcher die Übermittlungspflichten bei ärztlichen Leistungen regelt, sind die Vertrags(zahn)ärzt*innen verpflichtet, die von Ihnen festgestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten aufzuzeichnen und zu übermitteln. Diese Angaben sind unter Angabe der Diagnosen sowie unter Nutzung des sicheren Übermittlungsverfahrens über die Telematikinfrastruktur unmittelbar elektronisch an die Krankenkasse zu übermitteln.

Die elektronische Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an die Arbeitgeber wird wiederum durch eine Änderung im SGB IV umgesetzt. Nach § 109 SGB IV n. F. hat die Krankenkasse nach Eingang der Arbeitsunfähigkeitsdaten dem Arbeitgeber den Namen des Beschäftigten, Beginn und Ende der ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit, das Ausstelldatum und eine Kennzeichnung als Erst- oder Folgemeldung in elektronischer Form als Meldung zum Abruf bereitzustellen.

Für die Arbeitnehmer*innen entfällt damit die Vorlagepflicht bei Krankheit, die bisher in § 5 Abs. 1 S. 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) geregelt war. Danach musste spätestens am vierten Tag der Krankheit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werden. Der Arbeitgeber konnte diese – je nach Regelung im Arbeits- oder Tarifvertrag – auch früher verlangen. Die Entbindung von der Vorlagepflicht der AU beim Arbeitgeber, entbindet die Arbeitnehmer*innen jedoch keinesfalls von ihrer Anzeigepflicht im Krankheitsfall. Hier gilt wie bisher § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG, wonach der Arbeitnehmer verpflichtet ist, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich – das bedeutet juristisch: ohne schuldhaftes Zögern, also sofort – mitzuteilen.

Was sich nicht ändert, ist, dass die Arbeitgeber auch künftig keinen Einblick in die ärztliche Diagnose bzw. den ICD-Schlüssel erhalten. Es bleibt vielmehr weiterhin sichergestellt, dass diese Angaben nur in der Meldung an die Krankenkassen enthalten sind.

Frau Prof. Dr. Gokel, vielen Dank für das Gespräch!

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