Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen haben sich enorm verbessert

Interview mit Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer
Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer ist Chefarzt im St. Marien-Hospital in Hamm. Mit ihm sprechen wir über die Krankheit Depression, auftretende Symptome sowie Behandlungsmöglichkeiten.

Die Depression ist eine weit verbreitete psychische Krankheit. Als Hauptsymptom wird immer die Melancholie genannt, doch in den meisten Fällen treten bei Betroffenen noch zahlreiche anderen Symptome auf. Was sind die wichtigsten Symptome, die auf eine Depression hinweisen?

Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: Die depressive Verstimmung ist sicher das typische und auch häufigste Symptom einer Depression. Eine Depression kann aber auch durch eine leichtere Reizbarkeit auffallen, was dann oftmals nicht zuerst an eine Depression denken lässt. Daneben treten häufig ein Mangel an Antrieb, das Gefühl von Lustlosigkeit aber auch körperlich spürbare Symptome, wie Appetitmangel mit Gewichtsverlust, Schlafstörungen, eine mangelnde Libido oder unangenehme Körpergefühle bis hin zu Schmerzen auf. Zudem beklagen viele Betroffene eine verstärkte Müdigkeit und Konzentrationsstörungen. In schweren Fällen kann es sogar zu einer gestörten Wahrnehmung der Umwelt oder Sinnestäuschungen kommen und leider häufig auch zu Suizidgedanken. Spätestens dann sollten sich Betroffene umgehend fachlichen Rat und Hilfe holen.

Bei Betroffenen ist die Depression häufig nicht immer allgegenwärtig. Warum tritt die Krankheit oft in Episoden auf?

Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: Um die Diagnose einer „Depressiven Episode“ überhaupt stellen zu können, müssen die Beschwerden mindestens zwei Wochen lang anhalten. Unbehandelt verläuft eine Depression meist über einige Wochen bis Monate. Tatsächlich kann auch nach längeren gesunden Phasen eine Depression erneut auftreten. Das hängt neben Stresssituationen und Schicksalsschlägen im Leben vor allem auch von der Art der Erkrankung ab, denn die Depression hat viele Gesichter. Auch wenn ein episodischer Verlauf typisch ist, gibt es durchaus Patient:innen, die nur ein- oder zweimal im Leben eine depressive Phase erleben. Wichtig zu wissen ist, dass man durch eine gute Behandlung auch zukünftigen depressiven Phasen vorbeugen kann. Eine längerfristige medikamentöse Vorbeugung weiterer Phasen wird heutzutage empfohlen, wenn mehr als zwei depressive Episoden innerhalb von fünf Jahren aufgetreten sind.

Psychische Krankheiten sind mit dem Stigma behaftet, dass man diese nicht loswerden kann. Wie wird eine Depression diagnostiziert und behandelt? Ist die Krankheit wirklich unheilbar?

Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: Leider gibt es auch heute noch viele Missverständnisse und Fehlannahmen über psychische Erkrankungen. Ein häufiges Vorurteil ist die mangelnde Behandelbarkeit. Dabei haben sich die Behandlungsmöglichkeiten auch für psychische Erkrankungen in den vergangenen Jahrzehnten ganz erheblich verbessert. Das gilt insbesondere auch für Depressionen. Entscheidend für den Therapieerfolg ist dabei, dass zunächst die Diagnose richtig gestellt und notwendige ergänzende Untersuchungen, zum Beispiel zum Ausschluss einer Schilddrüsenerkrankung oder einer anderen körperlichen Erkrankung, sorgfältig durchgeführt wurden. Die wichtigste Grundlage der Diagnostik ist aber das Gespräch, in dem die Ärztin oder der Psychologe gezielt nach den Symptomen und dem Verlauf der Erkrankung fragt. Dazu braucht es neben dem Fachwissen einige Erfahrung, ofmals sind die Hausärzte bzw. -ärztinnen erste Ansprechpartner, die dann gegebenenfalls zum Facharzt oder zur Psychologin überweisen. Die Behandlung wird abgestuft nach dem Schweregrad der Depression empfohlen und erfolgt meistens durch Psychotherapie und/oder durch entsprechende Medikamente. Daneben gibt es noch viele weitere Therapieansätze, wie etwa Bewegungstherapie, Kunst- oder Musiktherapie, Ergotherapie oder auch sogenannte „Neurostimulationsverfahren“. Die Palette der therapeutischen Möglichkeiten ist heutzutage also sehr breit, was die Erfolgsaussichten der Behandlung zunehmend verbessert hat. Von „unheilbar“ kann deshalb auch keine Rede sein.

Laut einer Studie werden 20% aller Frauen mindestens einmal an einer depressiven Episode leiden. Warum erkranken weltweit mehr Frauen an Depressionen als Männer?

Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: Frauen sind ungefähr doppelt so häufig von Depressionen betroffen wie Männer. Die Ursachen hierfür sind noch nicht vollständig geklärt, aber neben weiterhin bestehenden Stereotypien der Geschlechterrollen scheinen hormonelle Unterschiede eine Rolle zu spielen und vermutlich auch eine häufigere Diagnose bei Frauen, die im Vergleich zu Männern bis heute offener dafür sind, bei psychischen Problemen fachliche Hilfe anzunehmen.

Die Entstehung der Krankheit ist immer noch wenig erforscht. Oftmals wird die Arbeit genannt, die zu einer Depression führt. Doch wie kommt es zu einer depressiven Phase und welche Auswirkung hat die Arbeit auf die Entstehung einer Depression?

Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: Das ist richtig, die genauen Ursachen einer Depression sind bisher noch zu wenig erforscht und verstanden. Wir gehen in der Wissenschaft und klinischen Versorgung heute vom sogenannten „Bio-psycho-sozialen Modell“ aus. Das heißt, dass jeder Depression unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, die dann im Einzelfall zusammenwirken. Neben den biologischen Ursachen (wie hormonelle Faktoren, Lebensalter, Genetik als Grund einer Veranlagung) wirken dabei psychologische Aspekte und nicht zuletzt auch soziale Faktoren, wozu unter anderem auch Beruf und Arbeit zählen. Die Situation am Arbeitsplatz kann dabei als ein wesentlicher Stressfaktor erlebt werden. Vor allem Arbeit, die gefühlt nicht zu schaffen ist, ein schlechtes Arbeitsklima, intellektuelle Über- oder Unterforderung sowie eine sehr monotone Tätigkeit und wenig Möglichkeiten, mitzugestalten und die Arbeitsprozesse aktiv mitzugestalten, gelten heute als arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren für eine psychische Erkrankung, in erster Linie Depressionen. Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass Arbeit für die meisten Menschen zu einem gesunden und erfüllten Leben dazugehört, also gerade auch gesundheitserhaltend ist oder für eine Rehabilitation sogar therapeutisch genutzt werden kann.

Vor allem für Arbeitgeber sind träge und unmotivierte Mitarbeiter hinderlich. Wie können diese mit einer Depressionsdiagnose eines Mitarbeiters im eigenen Unternehmen umgehen?

Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer: (Lacht). Gut, dass Sie das einmal so auf den Punkt fragen. Aber Depression hat wirklich nichts mit „Trägheit“ oder mit „mangelnder Motivation“ zu tun. Im Gegenteil, viele Menschen mit Depressionen zeigen in ihren gesunden Zeiten sogar häufiger Persönlichkeitszüge, die auch die meisten Arbeitgeber zu schätzen wissen, wie etwa eine hohe Gründlichkeit, absolute Verlässlichkeit, Streben nach Anerkennung und einen hohen Anspruch an sich selbst. Aber in depressiven Phasen können die Betroffenen häufig nicht wie gewohnt auf diese Eigenschaften zurückgreifen und geraten dann in eine Abwärtsspirale aus mangelnder Leistungsfähigkeit, Überforderung, ausbleibender Anerkennung und Selbstzweifeln, die ihrerseits die depressiven Symptome wieder verschlimmern können. Ich halte es für wichtig, dass in den Unternehmen heute die psychische Gesundheit einen festen Bestandteil der betrieblichen Gesundheitsfürsorge darstellt und Mitarbeitende, vor allem die Vorgesetzen, diesbezüglich aufgeklärt und vom Arbeitgeber Maßnahmen zum Erhalt der psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden umgesetzt werden. Viele moderne Unternehmen haben das längst für sich erkannt und gelernt, schon viel offener auch über das Thema Depression zu sprechen. Das macht vielen Betroffenen Hoffnung, wirkt sich meiner Ansicht nach aber auch positiv auf die Unternehmen und deren Leistungsfähigkeit aus.

Herr Prof. Dr. Sieberer, vielen Dank für das Gespräch!

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