Seray Demir: Depressionen können in jedem Alter auftreten

Interview mit Seray Demir
Seray Demir ist Psychologische Psychotherapeutin in ihrer Praxis in Krefeld. Mit ihr sprechen wir über Depressionen, Hauptsymptome sowie Umgang eines Arbeitgebers.

Die Depression ist eine weit verbreitete psychische Krankheit. Als Hauptsymptom wird immer die Melancholie genannt, doch in den meisten Fällen treten bei Betroffenen noch zahlreiche andere Symptome auf. Was sind die wichtigsten Symptome, die auf eine Depression hinweisen?

Seray Demir: Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Betroffenen fällt es schwer, den Alltag mit all seinen Aufgaben und Aktivitäten zu bewältigen. Neben der Melancholie bestehen weitere ernst zu nehmende Symptome wie beispielsweise Antriebsverlust, Schlafstörungen, Verlust der Lebensfreude und der Genussfähigkeit, leichte Reizbarkeit, Appetitlosigkeit/-steigerung, sozialer Rückzug, Gefühle der Erschöpfung und der schnellen Überlastung, Gefühle des Versagens, Schuldgefühle und Gefühle der Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf die Zukunft sowie kognitive Einbußen in Form von Vergesslichkeit, Konzentrationsverminderungen und einer verminderten Auffassungsgabe, bei schweren Formen auch suizidale Absichten.

Bei Betroffenen ist die Depression häufig nicht immer allgegenwärtig. Warum tritt die Krankheit oft in Episoden auf?

Seray Demir: Dies liegt daran, dass der Betroffene an unterschiedlichen Zeitpunkten über unterschiedliche Ressourcen verfügt und unterschiedlichen Belastungsgraden ausgesetzt ist. Zum Beispiel können bestimmte Zeitpunkte wie ein langer, dunkler Winter zu saisonalen wiederholten Winterdepression führen. Insbesondere die Pandemie zeigte ganz deutlich, wie Menschen, durch die zusätzliche Belastung der vielseitigen sozialen, räumlichen, beruflichen und privaten Einschränkungen, bei gleichzeitigem Verlust von Ressourcen, vermehrt depressive Symptome entwickelten, da Sie mehr Belastungen, bei gleichbleibenden oder abnehmenden Ressourcen ausgesetzt waren. Dies kann bei vielen nur zu einer zeitlich begrenzten Depression führen, bei anderen jedoch zu sich wiederholenden oder zu chronischen Depressionen führen, je nachdem welche Vulnerabilitäten vorhergegangen sind, welche belastenden Faktoren aufgetreten und über welche Bewältigungsmechanismen der Betroffene verfügt. Depressionen können in jedem Alter und in verschiedenen Lebenssituationen auftreten. Depressionen können über Wochen, Monate oder Jahre anhalten und sich im Hinblick auf ihr zeitliches Auftreten unterscheiden, z.B. eine einmalige depressive Episode, eine wiederkehrende (rezidivierende) depressive Episode oder eine langanhaltende depressive Verstimmung (Dysthymie) und chronische Depressionen.

Psychische Krankheiten sind mit dem Stigma behaftet, dass man diese nicht loswerden kann. Wie wird eine Depression diagnostiziert und behandelt? Ist die Krankheit wirklich unheilbar?

Seray Demir: Dies ist eine überholte Sicht der Dinge. Heute ist erwiesen, dass die Psychotherapie effektiv und langfristig und ohne „Nebenwirkungen“ helfen kann. Eine Depression ist meist in 2/3 der Fälle heilbar, sofern die Ursachen hierfür keine unerkannten endogenen oder organischen Ursachen sind, wie zum Beispiel eine unbehandelte Schilddrüsenproblematik. Bei weiteren 1/3 können Restsymptome bestehen bleiben. Die Diagnosestellung einer depressiven Episode geschieht nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10). Bei der Diagnostik wird zu Beginn zur Ausschließung organischer Ursachen neben einer ärztlichen Eingangsdiagnostik, auch eine psychologische Testdiagnostik in Form von Fragebögen wie z.B. dem Beck`schen Depressionsinventar, auch ein allgemeines Anamnesebogen eingesetzt, um die komplexen und individuellen Vulnerablitäten, die ursächlichen Faktoren sowie die aufrechterhaltenden Faktoren (z.B. die Wohn- oder Arbeitssituation) ausfindig zu machen, um die Behandlung danach auszurichten. Die Krankheit wird aufbauend auf eine gute Therapeut-Klient Beziehung behandelt, indem neben einem Aufbau einer allgemeinen Tagesstruktur, auch mithilfe positiver Aktivitäten wie die Wiederaufnahme von sozialen Kontakten, frühere Hobbies und regelmäßiger Bewegung dem psychischen und körperlichen Energieverlust entgegen gewirkt wird. Zudem werden zugrunde liegende negative Erfahrungen und oftmals, unbewusste dysfunktionale Grundüberzeugungen wie „Ich schaffe nichts und bin unfähig“ gemeinsam ermittelt und durch korrigierte Annahmen und funktionalen Verhaltensweisen ersetzt. Bessere Kommunikations- und Konfliktlösemuster werden eingeübt. Neue, positive Erfahrungen führen zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit bei den Betroffenen und tragen zu neuer Hoffnung und zu mehr Selbstwertgefühl bei. Bei sich wiederholenden, depressiven Phasen wird zusätzlich versucht, mithilfe eines „Notfallkoffers“, ein potentielles Rückfallrisiko präventiv entgegenzuwirken. Neben psychotherapeutischer Behandlung, kann auch begleitend eine medikamentöse Therapie erfolgen.

Laut einer Studie werden 20% aller Frauen mindestens einmal an einer depressiven Episode leiden. Warum erkranken weltweit mehr Frauen an Depressionen als Männer?

Seray Demir: Dies liegt daran, dass weltweit Frauen im Vergleich zu Männern zu Mehrbelastungen ausgesetzt sind und über vergleichbar weniger Ressourcen verfügen.  Zum Beispiel erzielen Frauen bei gleicher Arbeit weniger Einkommen und können daher auch beruflich schlechter aufsteigen. Sie übernehmen meist neben der Arbeit und dem Haushalt, auch die Erziehung und Versorgung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen. Auch die körperliche und psychische Belastung durch Schwangerschaft und Geburt belasten Frauen zusätzlich. Frauen ab dem 50. Lebensalter scheinen verstärkt Depressionen entwickeln zu können. Zudem werden Frauen anders sozialisiert, sie sind oftmals angepasster, können sich schlechter durchsetzen und abgrenzen und nicht gut „Nein-Sagen“. Insbesondere wenn die Frau finanziell abhängig ist, kann sie mehr Kontrollverlust erleiden und sich insgesamt weniger selbstwirksam erleben, was langfristig und stetig zu einer Erschöpfung und einer Hilfslosigkeit führen kann. Da Frauen insgesamt mehr Stressoren ausgesetzt sind, erleiden Sie auch häufiger daran. Frauen berichten im Vergleich zu Männern von mehr Symptomen, sie fühlen sich stärker belastet und weinen häufiger. Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass dass verheiratete Frauen ein höheres Depressionsrisiko haben als verheiratete Männer. Bei depressiven Frauen geht es meist um die Stärkung des Selbstwertgefühls. Bei Männern geht es meist darum, dass sie Zugang zu Ihren eigenen Gefühlen finden und diese benennen können.

Die Entstehung der Krankheit ist immer noch wenig erforscht. Oftmals wird die Arbeit genannt, die zu einer Depression führt. Doch wie kommt es zu einer depressiven Phase und welche Auswirkung hat die Arbeit auf die Entstehung einer Depression?

Seray Demir: Je nachdem, welche Faktoren vorherrschen, kann die Arbeit eine depressive Phase auslösen, zum Beispiel dann, wenn in einem Unternehmen nach Jahren neue Arbeitsstrukturen oder -prozesse entstehen und Betroffene auf die neuen Herausforderungen nicht ausreichend vorbereitet sind oder mehr Arbeit in gleicher Zeit erledigen sollen. Menschen mit charakteristischen Persönlichkeitsmerkmalen wie hohen Idealen, einer hohen Arbeitsmoral und hohem Anspruchsdenken, können sich in Arbeit verlieren und gemäß dem Motto höher, schneller, weiter keinen Sättigungspunkt erreichen und können in der zeitlichen Folge unbemerkt eine Erschöpfungsdepression (Burn-Out) entwickeln, wo meist der Körper der Betroffenen die Handbremse zieht und die Betroffenen in eine Behandlung zwingt.  Es kann aber auch sein, dass innerhalb des Betriebs ein schlechtes Arbeitsklima herrscht, verursacht durch eine schlechte Führung, durch Mobbing durch Chefs oder Kollegen sowie durch mangelnde Anerkennung und mangelnde Arbeitszufriedenheit, die durch verschiedene Faktoren wie mangelnde Entlohnung oder mangelndem Sinnerleben hervor gerufen werden kann. Dadurch, dass die Arbeitszeit mindestens einen Drittel des Alltags ausmacht, hat die Arbeitssituation eine besondere Auswirkung auf die Psyche und Körper. Durch den hohen Leistungs- und Optimierungsanspruch hat die Arbeit einen hohen Stellenwert in Bezug auf ein Stresserleben, damit verbundene Gesundheit und Krankheit. Darüber hinaus kann auch eine Verlusterfahrung oder eine Trennung sowie negative Erfahrungen in der Kindheit durch auslösende Stressoren eine depressive Phase begünstigen. Aber auch eine schlechte Anpassung an sich verändernde Umstände, kann eine depressive Verstimmtheit auslösen. Eine depressive Phase beginnt mit einer Verstimmtheit und einer darauf folgenden Abnahme der psychischen und körperlichen Belastungsfähigkeit sowie meist der Abnahme des Selbstwertgefühls, so dass eine unbehandelte akute Verstimmtheit zu einer chronischen bzw. zu einer sich wiederholenden depressiven Phase mit einem schlechten Selbstbild führen kann.

Vor allem für Arbeitgeber sind träge und unmotivierte Mitarbeiter hinderlich. Wie können diese mit einer Depressionsdiagnose eines Mitarbeiters im eigenen Unternehmen umgehen?

Seray Demir: Zunächst einmal wäre es wichtig, eine psychologische Diagnose zu Entstigmatisierung und die Betroffenen nicht zu bewerten. Je nach Arbeitsplatzsituation sollte insbesondere auf die Privatsphäre des Betroffenen geachtet werden, so dass nur im Einvernehmen des Mitarbeiters andere über seine Erkrankung erfahren sollen. Ferner sollte ein einfühlsames und achtsames Gespräch geführt werden, wo die individuellen Belastungen und Ressourcen der Person berücksichtigt werden könnten. Darauf aufbauend könnten Möglichkeit wie Arbeitsbeginn in Gleitzeit bei Schlafstörungen, nach längerem Arbeitsausfall eine stufenweise Eingliederung oder ggf. der Gestaltung der Arbeit im Homeoffice als Hilfestellungen betrachtet werden, wenn dies den Mitarbeiter zeitlich und im Hinblick auf die Arbeitsbelastung entlasten kann. Hierbei kann und sollte der Betroffene in die Lösung des Problems aktiv eingebracht werden und ihm die Möglichkeit gegeben werden, selber Vorschläge zu machen, die sein subjektives Erleben, seine Gefühle und Erfahrungen miteinbeziehen und ihm/ihr somit ein Gefühl von mehr Selbstwirksamkeit und mehr Anerkennung gegeben werden. Erfolge in der Vergangenheit und Fähigkeiten und Stärken des Mitarbeiters sollten unbedingt hervorgehoben werden, um so den Mitarbeiter wieder für die Arbeit zu motivieren. In diesem Lösungsprozess kann es sehr hilfreich sein, statt Druck von „Oben“ mehr aktive Gestaltungsmöglichkeiten für den Betroffenen anzubieten und ihn während des Prozesses bei Bedarf mit regelmäßigen Mitarbeitergesprächen auf Augenhöhe zu begleiten.  Kleine, aufeinander aufbauende, lösungsorientierte Schritte können langfristig und sehr nachhaltig sein. Wenn „träge, unmotivierte“ und verstimmt wirkende Mitarbeiter sich nicht selbstständig um professionelle Hilfe kümmern, könnte ein aufmerksamer Arbeitgeber diese freundlich ansprechen und nachfragen, wie es ihm gehe und diesem mitteilen, dass er sich um ihn sorge, ohne dabei negativ wertend zu sein und könnte dem Mitarbeiter das Gefühl geben für den Betrieb wichtig zu sein. Wenn sich der Arbeitgeber mit dem Mitarbeiter wertschätzend und solidarisch-fördernd verhält, kann dies eine Genesung positiv fördern und einen „unmotivierten“ Mitarbeiter wieder motiviert machen, insbesondere dann, wenn die Arbeit für die depressive Symptomatik ursächlich ist.

Frau Demir, vielen Dank für das Gespräch!

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