Ann-Kathrin Hirschmüller: Folgeschäden nach einem Arztbesuch – was nun?

Interview mit Ann-Kathrin Hirschmüller
Frau Dr. jur. Ann-Kathrin Hirschmüller, Fachanwältin für Medizinrecht bei Hirschmüller Rechtsanwälte, klärt im Interview über Rechte und Pflichten auf.

Immer wieder hört man, dass sich Krankenkassen querstellen, wenn Leistungen fällig werden. Warum provozieren die Kassen gerne einen Rechtsstreit?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Rein objektiv betrachtet, ist es den Kassen gesetzlich verboten, Leistungen zu gewähren, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind. Die Leistungen müssen also stets dem sogenannte Wirtschaftlichkeitsgebot aus § 12 SGB V genügen. Welche Leistung nun im Einzelfall aber als wirtschaftlich anzusehen ist und welche nicht, darüber kann man oft auch geteilter Meinung sein. Deshalb legt auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für den Großteil der Leistungen einen verbindlichen Leistungskatalog fest und bestimmt damit, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden dürfen und welche eben nicht – und auch dies sind natürlich Ergebnisse eines Entscheidungsverfahrens, in dem man auch anderer Meinung sein kann. D. h. die objektive Entscheidung, ob eine Leistung wirtschaftlich ist oder nicht, kann im Einzelfall als ungerecht empfunden werden – und ist es teilweise auch. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass man sich bei Durchsicht der Bescheide oftmals des Eindrucks nicht verwehren kann, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot“ als Totschlagargument genutzt wird, um sich mit dem konkreten Einzelfall nicht näher auseinandersetzen zu müssen.

Hinzu tritt die Tatsache, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen zwar eine staatlich zugewiesene Aufgabe wahrnehmen, aber eben keine staatlichen Einrichtungen sind und stets auch die Verbesserung ihrer eigenen Marktposition anstreben. Das Bundesversicherungsamt hat vor zwei Jahren in seinem „Sonderbericht zum Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“ darauf hingewiesen, dass der Wettbewerb unter den Kassen dazu geführt hat, dass sich die Kassen oftmals als Unternehmen verstehen und die gute und effiziente Versorgung der Versicherten nicht immer an erster Stelle stünde (vgl. ab S. 119). Damit drängt sich natürlich die Annahme auf, dass der Wettbewerb zwischen den Kassen im Bereich der Leistungsgewährung nicht unbedingt (nur) zu Vorteilen geführt hat. Für die Versicherten tritt erschwerend hinzu, dass die ablehnenden Bescheide oftmals nicht ordentlich erkennen lassen, dass und wie man sich gegen sie wehren kann. Umso sinnvoller ist es natürlich, sich im Fall eines ablehnenden Schreibens Rechtsrat einzuholen.

Kann ich mich mit einer Rechtsschutz-Versicherung gegen die hohen Prozesskosten absichern? Worauf sollte ich beim Abschluss einer solchen Versicherung achten?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Ja, eine Rechtsschutzversicherung bietet einen guten Schutz auch langjährige und teure Gerichtsverfahren durchhalten zu können. In den meisten Gesamtpaketen der Rechtschutzversicherer sind Streitigkeiten mit den Krankenversicherungen mit umfasst und sind auch ausreichende Versicherungssummen vereinbart. Eine Rechtsschutzversicherung mit dem Baustein Privatrechtschutz übernimmt bspw. regelmäßig die Kosten für Anwalt, Gericht und Gutachten in sozialrechtlichen Streitigkeiten, aber auch bei Arzthaftungsfällen. Auf diesen Baustein sollte daher geachtet werden. Daneben gilt aber die Besonderheit, dass viele Rechtsschutzversicherer bei Streitigkeiten im Sozialrecht erst dann zahlen, wenn der Rechtsstreit vor Gericht geht. D. h. Anwaltskosten für ein vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren werden regelmäßig nicht übernommen. Um sich die außergerichtlichen Anwaltskosten ebenfalls abnehmen zu lassen und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen einen Rechtsstreit vor Gericht zu vermeiden, sollte dieser Kostenausschluss möglichst nicht vereinbart werden. Ebenso sollte beachtet werden, dass bei den meisten Versicherungsverträgen eine sogenannte Wartezeit festgelegt ist. Die Wartezeit besagt, dass solche Rechtsstreitigkeiten von der Versicherung nicht umfasst werden, die vor Ablauf einer Wartefrist von in der Regel drei Monaten ab Vertragsbeginn eintreten oder sich bereits vor Vertragsabschluss angekündigt haben. Die Ursache für den Rechtsstreit darf also erst nach Ablauf der Wartezeit eingetreten sein. Beim Abschluss einer Rechtsschutzversicherung sollte man daher auf solche Klauseln achtgeben.

Kann man einen Arzt oder Zahnarzt auch längere Zeit nach einem Eingriff zur Verantwortung ziehen, wenn sich erst später Folgeschäden oder Probleme einstellen?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Ja, das ist in den meisten Fällen unproblematisch möglich. Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt zwar gemäß § 195 BGB nur drei Jahre. Die Frist beginnt aber erst mit dem Ende des Jahres zu laufen, in dem der geschädigte Patient den Behandlungsfehler erkennt – oder hätte erkennen müssen. Im Bereich des ärztlichen Behandlungsfehlers besteht natürlich die Besonderheit, dass sich der Fehler oder dessen Folgen oftmals erst lange Zeit nach dem (zahn-) ärztlichen Eingriff zeigt. Dementsprechend können viele Jahre ins Land gehen, bevor man die Folgen des Behandlungsfehlers tatsächlich erkennt oder er durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse erkennbar wird. Erst jüngst hat der Bundesgerichtshof erneut entschieden, dass dabei an die grob fahrlässige Unkenntnis des Geschädigten keine überzogenen Anforderungen gestellt werden dürfen (BGH, Urteil vom 26.5.2020, Az.: VI ZR 186/17). Es gibt allerdings in § 199 Abs. 2 BGB eine Höchstverjährungsfrist von 30 Jahren – nach dieser Zeit verjähren auch unbekannte Ansprüche endgültig.

Wenn ich Folgeschäden nach einem Unfall habe, schuldhaft durch Dritte verursacht, wie wird das Schmerzensgeld für zukünftige Einschränkungen berechnet?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Unabhängig davon, ob das Schmerzensgeld aufgrund eines Haftungsfalls oder eines von einem anderen schuldhaft verursachten Unfalls beansprucht wird, soll es dem Ausgleich und der Genugtuung im konkreten Fall dienen. Eine Formel zur pauschalen Berechnung des Schmerzensgelds kann es daher nicht geben. Es gibt zwar sogenannte Schmerzensgeldtabellen, die eine ungefähre Orientierung liefern, wie hoch das Schmerzensgeld angesetzt werden kann. Die Tabellen dürfen aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Höhe und Art des Schmerzensgelds eben nicht pauschal, sondern anhand des Einzelfalls entschieden wird. Nach der Rechtsprechung sind bei der Berechnung bestimmte Faktoren zu berücksichtigen, wie die Art der Verletzung, die Dauer der Verletzungsfolgen, der Verschuldungsgrad, die wirtschaftliche Situation von Schädiger und Geschädigten sowie mögliche Dauerfolgen. Denn bei schweren irreversiblen Dauerschäden kann dem Verletzten neben dem Schmerzensgeld als Kapitalbetrag auch eine sogenannte Schmerzensgeldrente zustehen. Hier wird also nicht nur eine einmalige Zahlung fällig, sondern zudem eine monatliche Rente. Folgeschäden nach einem Schadensfall betreffen aber nicht nur das Schmerzensgeld, sondern auch anderweitigen Ausgleich, wie dem Haushaltsführungsschaden oder dem Verdienstausfallschaden. Auch andere Einbußen werden also im Rahmen des Schadenersatzes berücksichtigt.

Wenn ein Krankenhaus Behandlungsfehler macht, hört man oft, dass jahrelang prozessiert werden muss, bevor der/die Geschädigte Recht bekommt. Gibt es eine Art Hilfsfonds, aus dem Betroffene entschädigt werden oder muss man grundsätzlich die Zeit aussitzen?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Einen speziellen staatlichen Hilfsfonds im Sinne eines Patientenentschädigungs- oder Härtefallfonds gibt es leider nicht, auch wenn auf Landes- und Bundespolitik ein solcher immer wieder gefordert wird. Es gibt aber natürlich Stiftungen, die sich generell besonderer Härtefälle bzw. Menschen in Notlagen annehmen, wie beispielsweise die Walter-Blüchert-Stiftung oder die Franz-Beckenbauer-Stiftung. Daneben darf man aber auch nicht vergessen, dass bei Krankheit oder Behinderung die gesetzlichen Kranken- und/oder Pflegekassen die notwendigen Leistungen übernehmen (sollten) und bei einem Verdacht auf einen Haftungsfall zunächst einspringen. Auch wenn der Betroffene dadurch nicht vollumfänglich entschädigt wird, wird ihm zumindest im Hinblick auf die Kosten der Behandlung und Rehabilitation geholfen.

Wie finde ich den für mich besten bzw. für meinen Fall qualifiziertesten Anwalt?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Das ist gar keine so einfache Frage. Neben der fachlichen Qualifikation muss natürlich auch immer der persönliche Umgang zwischen Anwalt und Mandant passen. Grundsätzlich kann man aber natürlich sagen, dass Fachanwälte – ob nun für das Sozialrecht, das Medizinrecht oder ein gänzlich anderes Rechtsgebiet – , für ihre Bereiche besonders qualifiziert und auch besonders erfahren sind. Denn den Titel „Fachanwalt“ dürfen nur Anwälte führen, die neben der theoretischen Qualifikation ausreichend praktische Erfahrung auf dem jeweiligen Fachgebiet nachgewiesen haben. Wenn man also so gar keinen Ansatzpunkt hat, welchen Anwalt man kontaktieren soll, sollte man zumindest nach einem Fachanwalt des einschlägigen Gebietes suchen. Hierfür gibt es auf den Webseiten der Rechtsanwaltskammern in der Regel spezielle Anwaltssuchen nach Fachgebiet für den jeweiligen örtlichen Zuständigkeitsbereich. Daneben bieten mittlerweile viele Online-Bewertungsportale Anwaltssuchen an, wobei ich allerdings bezweifle, dass tatsächlich alle eine verlässliche Aussage über die Qualität der Rechtsvertretung treffen (können). Nutzer sollten hier auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Bewertungsmechanismen achten.

Man könnte meinen, ein Fachanwalt für Medizinrecht müsste sehr gute Kenntnisse in Humanmedizin mitbringen. Ist das so?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Ein medizinrechtliches Mandant sowie ein möglicherweise folgendes Gerichtsverfahren verläuft eigentlich fast nie ohne die Bewertung des Falls durch einen (ärztlichen) Sachverständigen – der Anwalt bekommt also Unterstützung im Hinblick auf die Bewertung der medizinischen Hintergründe. Aber ohne medizinische Kenntnisse geht es natürlich nicht! Dies bedingt sich schon darin, dass man die Ausführungen des Sachverständigen verstehen und hinterfragen können muss. Zudem formuliert der Anwalt eigene Fragen, die für den Rechtsstreit entscheidend sind und die der Sachverständige zu beantworten hat. Tatsächlich kennen sich Fachanwälte für Medizinrecht daher im Bereich der Humanmedizin sehr gut aus – wenn vielleicht auch nicht auf jedem medizinischen Fachgebiet gleich weitreichend. Aber regelmäßig natürlich wesentlich besser, als Anwälte, die auf diesem Rechtsgebiet keine Erfahrung aufweisen.

Danke schön für das Interview, Frau Hirschmüller.

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