Georg Hemmerich: Der politische Einfluss hat an Gewicht zugenommen

Interview mit Rechtsanwalt Georg Hemmerich
Rechtsanwalt Georg Hemmerich ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht und Inhaber der KANZLEI HEMMERICH in Heidelberg. Mit dem Heidelberger Anwalt und Europajuristen sprechen wir über die jüngsten strategischen Anpassungen der Europäischen Zentralbank, den hieraus resultierenden Auswirkungen auf die Frage des Klimaschutzes und die Folgen der Strategieänderung auf das Inflationsziel.

Die Europäische Zentralbank hat ihre geldpolitische Strategie geändert. Was ändert sich mit der neuen Strategie?

Georg Hemmerich: Schon lange wurden die geldpolitischen Planungen der europäischen Zentralbank teils kritisch beäugt. Wir erinnern uns hier beispielsweise an die Zeiten der „Griechenlandkrise“ und damit der sogenannten Euro-Rettung. Vielen sind die Worte von Mario Draghi noch in den Ohren, als dieser mitteilte, man werde den Euro retten „whatever it takes“. Zur geldpolitischen Strategie gehörte schon immer eine kontrollierte Inflation bei gleichzeitiger Preisstabilität. Durch die Veränderungen an den Kapitalmärkten kam es dann teilweise zu einer Unterschreitung der Inflationsziele. Während das Inflationsziel bislang bei unter 2 % liegen sollte befand man sich im Jahr 2010 mit 1,6 % Inflationsrate in der Eurozone noch innerhalb des Korridors während man 2011 und 2012 mit 2,7 % bzw. 2,5 % Inflationsrate in der Eurozone schon darüber lag (Quelle: statista.com). In der damaligen Wahrnehmung war es nicht nur in Fachkreisen erstaunlich, dass in den Jahren 2013, 2014 und insbesondere bis 2016 die Inflationsrate in der Eurozone auf bis zu 0,2 % abgesunken ist und sich dann erst 2017 und 2018 wieder auf 1,5 % bzw. 1,8 % Inflationsrate „erholte“. Da sich aktuell die Inflationsrate im Jahr 2020 mit 0,3 % wieder im Sinkflug befand, musste nun ein Strategiewechsel her, wobei die coronavirusbedingte Pandemie noch nicht vollständig abgebildet ist. Somit wurde eine neue Strategie ausgegeben: das aktuelle symmetrische mittelfristige Inflationsziel von 2 %. Nach Mitteilung der europäischen Zentralbank folgt dieser Plan einer eingehenden Überprüfung aus dem Jahr 2020 und enthält nun auch den Kern des aktuellen Zeitgeistes: Klimaschutz. Zudem wurde der HVPI (harmonisierter Verbraucherpreisindex) als „geeignete Messgröße“ vom EZB-Rat bestätigt. Neu ist beispielsweise nunmehr die Berücksichtigung von selbstgenutztem Wohneigentum bei der Berechnung der Inflation.

Was wurde an der alten Strategie kritisiert und hat dies die Änderungen ausgelöst?

Georg Hemmerich: Es ist bei der geldpolitischen Strategie der europäischen Zentralbank schon lange zu beobachten gewesen, dass der politische Einfluss an Gewicht zugenommen hat. Neben den Leitzinsen, über die die europäische Zentralbank herrscht, verfügten die Inflationshütern jedoch nur über wenige weitere Werkzeuge. Manche davon waren teils sehr umstritten. Zuletzt wirkte die strategische Ausrichtung der europäischen Zentralbank im Hinblick auf die Leitzinsen behäbig und ungelenk, da hier aufgrund der sogenannten „Nullzinspolitik“ nur wenig Spielraum blieb. Nicht nur von Seiten der Klimaschützer wurde auch kritisiert, dass die alte Strategie nicht den Klimaschutzzielen dient. Diese große Herausforderung unserer Zeit sollte nun auch in der Modernisierung der geldpolitischen Strategie der europäischen Zentralbank ihren Niederschlag finden. Über die Gewährleistung von Preisstabilität hinaus wird nun auch der Klimaschutz mitgedacht, da sich auch die europäische Zentralbank dem Klimawandel nicht entziehen kann. Sicherlich hat auch die Frage nach einer geeigneten Messgröße den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) zum unverzichtbaren Bestandteil des Preisstabilitätsziels gemacht. Letztlich dürften diese allgemeinen Erneuerungsbewegungen in der Geldpolitik den Strategiewechsel ausgelöst haben.

Wird das Thema Klimaschutz in der neuen Strategie berücksichtigt?

Georg Hemmerich: In der Tat hat der Rat der Europäischen Zentralbank nunmehr ausdrücklich anerkannt, was weitgehend ohnehin schon Konsens ist: Der Klimawandel existiert und hat teils unabsehbare Konsequenzen, die sich eben auch auf die Preisstabilität auswirken können. Die Währungshüter unter der Notenbank-Chefin Christine Lagarde sprechen selbst von „einem ambitionierten klimabezogenen Maßnahmenplan“ der nunmehr in die Tat umgesetzt werden soll. Der EZB-Rat will sich nach eigener Angabe nun nachdrücklich dafür einsetzen, dass Klimaschutzaspekte „stärker in seinen geldpolitischen Handlungsrahmen“ einbezogen werden, ohne dies jedoch genauer zu erläutern. Letztlich geht es darum, die Handlungen und strategischen Positionen der EZB auch unter Berücksichtigung von Klimaschutzaspekten und im Geiste der ökologischen Nachhaltigkeit zu verwirklichen. Dies sind zwar keine gänzlich neuen Ideen; von der Reichweite und der Deutlichkeit in der Kommunikation erscheint dies jedoch schon bemerkenswert. Doch bereits jetzt werden erste Stimmen laut, denen dies noch nicht weit genug geht und die noch wesentlich radikalere Einschnitte in die Geldpolitik, auch im Hinblick auf die Berücksichtigung der sozioökonomischen Nachwirkungen der geldpolitischen Stellschraubenbewegungen, einfordern.

Sind die Inflationsziele der neuen EZB Strategie realistisch?

Georg Hemmerich: Bei Statistiken und Prognosen ist schon immer Vorsicht geboten gewesen. Denn die immens verwobenen und teils nur schwer zu durchschauenden Verbindungen und gegenseitigen Abhängigkeiten in der paneuropäischen Geldpolitik, bei der die europäischen Nationalstaaten immer noch Interessenpolitik betreiben, machen eine seriöse Einschätzung naturgemäß schwierig. Begrüßenswert ist der Ansatz der EZB, dass der Klimawandel nunmehr bei der Ausrichtung der geldpolitischen Strategie auch im Hinblick auf Klimaschutzaspekte mitgedacht wird. Denn dies ist zweifellos die Herausforderung unserer Zeit und somit sicherlich auch der Gradmesser für den Erfolg der neuen Strategie. Das symmetrische mittelfristige Inflationsziel von 2 %, welches eine Vermeidung jeglicher Abweichung vorsieht, erscheint ambitioniert. Der Blick in den Rückspiegel zeigt, dass in der Vergangenheit oftmals unvorhergesehene Umstände einen ganz erheblichen Einfluss auf die Inflation hatten. Sich nunmehr selbst vorzugeben weder eine negative Abweichung noch eine positive Abweichung zu wünschen erscheint daher auf den ersten Blick wenig realistisch. Die Größenordnung von 2 % hingegen erscheint mir aus heutiger Sicht durchaus griffig.

Welche Folgen könnten sich aus der neuen Strategie ergeben?

Georg Hemmerich: Naturgemäß sind die Folgen einer bislang unerprobten und teilweise auch als ambitioniert zu bezeichnenden Strategie schwer vorherzusagen. Begrüßenswert ist jedoch der Ansatz, die Modernisierung bereits beim HVPI zu beginnen und diesen nun als geeignete Messgröße für die Preisentwicklung zu verwenden. Breite Schichten der europäischen Bevölkerung werden es sicherlich auch gerne hören, dass sogar die Geldpolitik den Klimawandel zur Kenntnis nimmt und nachhaltigen Klimaschutz mitdenkt. Insgesamt scheint sich die EZB daher moderner und möglicherweise auch flexibler zu präsentieren um sich den großen Herausforderungen unserer Zeit mit offenem Visier zu stellen. Ich erhoffe mir daher eine größere Flexibilität im Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen, welche sich auf die Inflation in der Eurozone auswirken und damit eine bessere Steuerbarkeit der Preisentwicklung durch die EZB bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Verbraucher-, Umwelt- und Klimaschutzziele in der Europäischen Union.

Herr Hemmerich, vielen Dank für das Gespräch!

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